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Schwemmholz

Schwemmholz

Titel: Schwemmholz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Weltmacht auf.«
    »Genau so hab ich mir die Postmoderne vorgestellt«, sagte Pfrontner und wies mit seinem Cognac-Schwenker anklagend auf Nimmerley. »Zurück zum Manchester-Kapitalismus und zu den Träumen von einer Weltmacht!«
    »Ach!«, höhnte Nimmerley. »Mit solchen Sprüchen locken Sie doch keinen einzigen sozialistischen Dackel mehr hinter dem Braunkohleofen vor! Nehmen wir doch das Beispiel Leuna: Ich weiß nicht, was da wirklich passiert ist. Ich weiß nur, dass es absolut unverantwortlich gewesen wäre, an Leute zu verkaufen, die nicht das Potenzial und das Interesse gehabt hätten, für den Erwerb auch zusätzliche Leistungen zu erbringen. Wer nicht in der Lage ist zu schmieren, hat entweder nicht die richtigen Beziehungen oder nicht das notwendige Kleingeld. Weder das eine noch das andere empfiehlt ihn.«
    »Sie vergessen«, wandte Pfrontner ein, »dass das notwendige Kleingeld – wie Sie es nennen – letztlich immer von anderen aufgebracht werden muss. Meist sogar ein Mehrfaches davon. In diesem Fall werden vermutlich sowohl die Leuna-Werker als auch die Steuerzahler zur Kasse gebeten.«
    »Vielleicht lernt der Steuerzahler auf diese Weise, dass es nicht seine Aufgabe ist, Chemie-Kombinate zu verhökern.

    »Ihre Logik ist die des Betrügers«, sagte Pfrontner fast zornig. »Wer die Leute übers Ohr haut, tut ein gutes Werk, weil er sie auf ihre Dummheit aufmerksam macht. Eine Regierung darf das eigene Land ausplündern, weil die Leute dann lernen, was ihnen nicht gut tut.«
    »Was wäre dabei? Trial and error. Außerdem, verehrter Professor Pfrontner, was heißt und bedeutet eigentlich Ausplünderung? England hat über Jahrhunderte hinweg Irland ausgebeutet, ein Faktum, ohne das die Weltliteratur auf Jonathan Swift verzichten müsste. Und wenn Sie mir bitte freundlicherweise erklären wollten, ob die gegenwärtigen terms of trade mit irgendeinem anderen Begriff als dem der Ausplünderung auf den Punkt gebracht werden können? Die Leuna-Werker sind, glaube ich, noch ziemlich gut bedient im Vergleich zu den Lohntarifen guatemaltekischer Plantagenarbeiter.«
    »Höre ich richtig?«, Pfrontners Gesicht hatte sich leicht gerötet. »Wer ist es denn, der hier sein Süppchen auf dem Braunkohleofen kocht? Offenbar ist es der Fluch der Postmoderne, jedes Fähnchen aufziehen zu müssen, das gerade zur Hand ist. Vermutlich werden die Architekten demnächst die Stalinallee wiederentdecken.«
    »Schon passiert«, antwortete Nimmerley.
    Berndorf stemmte sich von seinem Sessel hoch, griff nach seinem Krückstock und entfernte sich, noch leicht hinkend, in Richtung Flur. Das hurtige Wort hatte ihm noch nie so recht zur Verfügung gestanden, das Gerede verdross ihn, erst recht, weil er selbst naiv und unbedarft den Anstoß dazu gegeben hatte. Es war leicht, zynisch und sarkastisch über die Gesellschaft zu plaudern, wenn man deren Betriebsunfälle nicht von der Straße kehren musste. Ebenso allerdings verdross ihn der ganze Abend, den Barbara möglicherweise aus dem einzigen Grund gab, um ihn in den Kreis ihrer Bekannten und Kollegen einzuführen und ihn dort so präzis wie rätselhaft mit den Worten vorzustellen: »Und dies ist Berndorf.«
    Vor drei Wochen hatte er es mit seinen Krücken und einer
umgeschnallten Reisetasche von seiner Wohnung bis zur Straßenbahn und von dort in einen Nachtzug mit Liegewagen nach Berlin geschafft, nachdem die Witwe Fröschle sich erdreistet hatte, ihm die Fenster putzen und seine Bücher ausstauben zu wollen. Nun war er in Berlin, in Barbaras sorglos mit Bücherregalen, Möbeln vom Sperrmüll und einigen wirklichen Antiquitäten eingerichteter Altbauwohnung. Hier fühlte er sich wohl, jedenfalls dann, wenn er mit Barbara allein war.
    Ein Orthopäde in der Siemensstraße hatte ihm inzwischen die behutsame Belastung des linken Beines gestattet, sodass er sich mit einem Krückstock einigermaßen behelfen konnte. Dass er trotz solcher Fortschritte mit sich unzufrieden war, hatte allerdings nicht nur mit Barbaras Gästen zu tun. Es war noch etwas anderes da, ein Stachel, von dem er nicht wusste, wie er ihn aus seinen Gedanken entfernen sollte. Er hatte in Ulm eine Rechnung offen. Nur war ihm nicht klar, aus welchen Einzelposten sie sich zusammensetzte und wo der Strich war, unter dem sie sich addieren ließen.
    Er humpelte zwischen den Gruppen von Männern und Frauen hindurch, die sich auf dem Flur und im Wohnzimmer drängten. Sie gehörten fast ohne Ausnahme dem akademischen Milieu

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