Schwere Schuld / Der Wächter meiner Schwester - Zwei neue Romane in einem Band
danach fühlte er sich umso älter.
Dr. Alice Kurtags Laboratorium war in einem sechsstöckigen, postmodernen Gebäude aus Backsteinen und Beton untergebracht, das für Erdbeben nachgerüstet worden war. Berkeley hockte nicht direkt über dem San-Andreas-Graben,
aber wie in der gesamten Bay Area war der Boden erdbebengefährdet, und niemand konnte vorhersagen, wann der große Knall kommen würde.
Barnes betrat das Gebäude, in dem sich Kurtags Labor befand, und wurde prompt von einem Haufen graduierter Studenten angestarrt. Kurtags Labor im dritten Stock war ziemlich groß, ihr Büro nicht. Ihr privater Bereich bot kaum Platz für einen Schreibtisch und zwei Stühle, hatte aber eine schöne Aussicht auf die Stadt und das Wasser dahinter. Der Nebel hatte sich vor mehreren Stunden gehoben, und durch die Verdunstung war ein von weißen Wölkchen und Kondensstreifen durchzogener blauer Himmel entstanden.
Kurtag sah aus, als hätte sie die fünfzig überschritten, eine hübsche Frau mit kräftigen Gesichtszüge und einer kurzen, praktischen Frisur. Ihre dunklen Haare waren von blonden Strähnen durchzogen, und ihre braunen Augen blickten forschend. Sie hatte nur wenig Make-up aufgelegt, einen Tupfer Rouge auf den Wangen und etwas Weiches und Feuchtes auf den Lippen. Sie trug eine langärmlige grüne Bluse, eine schwarze Hose und ebensolche Stiefel. An ihren Ohren glitzerten Diamantstecker. Ihre Nägel waren kurz geschnitten, aber manikürt.
»Wissen Sie etwas von einem Gedenkgottesdienst?«, fragte sie Barnes.
Ihre Stimme war sanft und überraschend lässig.
»Nein, Dr. Kurtag, weiß ich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass es einen geben wird, sobald der Coroner die Leiche freigibt.«
»Ich nehme an, dafür ist es jetzt noch zu früh.«
Barnes nickte.
»Die Sache ist einfach furchtbar. Was ist passiert? War es ein Raubüberfall?«
»Ich will nicht den Eindruck erwecken, als redete ich drum herum, aber wir haben einfach noch nicht alle Fakten.
Ich weiß, dass der Stadtrat heute Abend um sieben eine Sitzung im Rathaus anberaumt hat. Vielleicht wissen wir dann mehr.«
»Das hoffe ich doch sehr. Diese Sache ist so unangenehm. Ich arbeite abends noch sehr spät und bin hier ziemlich oft allein. Die Vorstellung von einem Mann, der alleinstehenden Frauen nachstellt, ist einfach grauenhaft. Und dann auch noch die arme Davida.«
»Wie ist es hier um die Sicherheit bestellt?«
»Es ist eine Universität. Sie ist voll von Leuten, die hierhergehören, und solchen, die nicht hierhergehören. Die meiste Zeit vergrabe ich mich in meine Arbeit und kümmere mich nicht um meine Umgebung. Jetzt bin ich so aufgeregt, dass ich mich kaum konzentrieren kann.«
»Standen Sie und Davida sich nahe?«
»Im Lauf des letzten Jahres sind wir uns bei der Arbeit an ihrer Gesetzesvorlage sehr viel nähergekommen. Jetzt … ohne sie als Fürsprecherin … weiß ich wirklich nicht, wie groß unsere Chance ist, dass das Gesetz verabschiedet wird.«
»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«, fragte Barnes.
»Gestern Nachmittag.« Die Stimme von Alice Kurtag brach. »Es scheint jetzt so lange her.«
»Was war der Anlass?«
»Sie hat vorbeigeschaut, um einige Berichte für ein paar Lobbyisten abzuholen. Sie wollte in dieser Woche die Hauptstadt mit einer Breitseite bestreichen und brauchte alle wissenschaftlichen Informationen, die ich beibringen konnte. Ich hatte einen Teil des Materials bereit, aber nicht alles. Sie wollte heute Nachmittag vorbeikommen, um den Rest abzuholen …« Wieder brach ihre Stimme, aber diesmal traten ihr Tränen in die Augen. »Entschuldigung.«
»Es ist eine furchtbare Geschichte«, sagte Barnes. »Haben
Sie außerhalb der Arbeit gesellschaftlich mit Davida verkehrt?«
Alice Kurtag wischte sich die Augen mit einem Papiertaschentuch ab. »Bei Davida war alles Arbeit - von ihren Partys bis zu ihren Meetings. Dann und wann, wenn wir lange gearbeitet haben, sind wir zusammen etwas essen gegangen und danach ins Kino. Keiner von uns beiden hatte Kinder, um die man sich kümmern musste.« Die Wissenschaftlerin lächelte traurig. »Wir waren kein Liebespaar, wenn Sie darauf anspielen wollten.«
Barnes zuckte neutral die Achseln. »Hat Sie sich Ihnen je anvertraut?«
»Ab und zu, vermute ich. Sie erzählte mir, wie viel Sorgen sie sich wegen des neuen Gesetzes machte. Sie hatte nur eine Chance zur Annahme, wenn jeder einzelne ihrer Parteifreunde sich dafür entschied, sie zu unterstützen. Manche hatten es sich
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