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Schwerelos

Schwerelos

Titel: Schwerelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildikó von Kürthy
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überhaupt in diesem Moment sein? Geht es dir auch gut? Bei dir in Südafrika müsste jetzt bald das neue Jahr beginnen.
     
    Ich legte den Stift beiseite. Noch zwei Stunden bis Mitternacht. Draußen schossen verfrühte Raketen in den Himmel. Mir war, als hätte meine Tante mir die Antwort bereits gegeben. Ich ging in mein Arbeitszimmer und öffnete die Kiste mit der Aufschrift «Briefe – erhaltene und nicht abgeschickte».
     
    New York, im Dezember 1992
     
    Marie, mein Liebchen,
    nun bin ich also endlich hier, in der Stadt, in der man an den Wolken kratzen kann. Die Wohnung, die mir eine Freundin für einen Monat überlassen hat, liegt im sechsundfünfzigsten Stockwerk. Du würdest es lieben. Schaut man aus dem Fenster, fühlt man sich unendlich klein und unendlich frei. Ich bin sechzig Jahre alt und von meinem Leben begeistert! Ich weiß jetzt, wie richtig es ist, dass ich mich nach fünf Jahren von meinem zweiten Mann scheiden lasse. Bei unserem letzten Telefonat hast du nach den Gründen gefragt. Wir hätten doch so harmonisch und zufrieden gewirkt. Aber Zufriedenheit klingt für mich nach Ruhestand und Lebensabend. Ich habe Hans geheiratet, weil ich ihn geliebt habe. Das tue ich nicht mehr. Du hast geschimpft, ich würde es mir zu leicht machen, lieber vorschnell gehen, als mich den Schwierigkeiten zu stellen.
    Marie, du bist zwanzig und frisch verliebt. Auch ich glaube an die große Liebe. Immer wieder. Aber man weiß auch, wann sie vorbei ist. Es war ein Sonntag im Oktober. Wir saßen beim Frühstück, und Hans aß sein Spiegelei. Er hat es immer auf die gleiche Art gegessen: erst das Eiweiß, Stückchen für Stückchen, bis nur noch das gelbe Herz übrig war. Und das hat er sich dann immer mit der Gabel in seinen weit aufgerissenen Mund
geschoben. Manchmal lief ihm etwas Eigelb das Kinn runter. Ich fand das niedlich, später dann nicht mehr. Und an diesem Oktobersonntag habe ich mich geekelt. Da wusste ich, es ist vorbei. Du findest das voreilig, unfair, grausam? Aber worauf sollte ich warten, wenn ich mir doch sicher war? Dass die Angst vor dem Alleinsein nachlässt? Das wird sie nicht.
    Du hast recht, man darf es sich nicht zu leicht machen und bei der ersten schweren Krise die Koffer packen. Das wäre Feigheit, kein Mut. Aber glaubst du, der Weg des geringsten Widerstandes hätte mich in den sechsundfünfzigsten Stock eines Hochhauses in Manhattan geführt?
    Was ich nicht leiden kann, sind Leute, die aus Bequemlichkeit und Angst die kleine, vermeintlich sichere Lösung wählen. Die sich Jahr um Jahr quälen lassen von der Sehnsucht nach einem gewagten Leben und der Angst, etwas im Leben zu wagen. Wie viele Menschen halten Beziehungen am Leben, die längst eine angemessene Beerdigung verdient hätten. Meine erste Ehe musste noch der Tod scheiden. Heute besorge ich das lieber selbst. Sicherheit ist eine Illusion. Das Leben verändert sich sowieso. Da ist es doch besser, ich mische ein bisschen mit, statt es nur mit mir geschehen zu lassen, meinst du nicht?
    Lass dir von deiner alten Tante etwas sagen: Geh, bevor das, was mal Liebe war, zusammenschrumpelt wie eine zu heiß gewaschene Wollsocke. Erinnere dich lieber an etwas Großes, statt dich mit der Mittelmäßigkeit anzufreunden. Sei mutig und glücklich, mein Kleines. Ich umarme dich.
     
    Deine Tante Rosemarie
     
    Noch eine Stunde bis Mitternacht. Ich hätte Rosemarie jetzt gerne angerufen, aber wie immer, wenn sie ein Abenteuersuchte, ging sie nicht an ihr Handy. Ich setzte mich an den Schreibtisch und beendete den Brief an sie.

    Liebste Tante Rosemarie, ich wünsche dir für das neue Jahr unzählige Sehnsüchte. Du wirst dich an etwas Großes erinnern, so viel ist schon mal sicher.
    Bei dir ist es jetzt Punkt zwölf.
    Happy New Year!
    Deine Marie
     
    Und in diesem Moment verschwand eine zweimotorige Propellermaschine von den Radarschirmen des Flughafens in Kapstadt.

«Du musst entscheiden: Wie frei willst du sein?»

    «Das könnte ein Penis sein.»
    «Sind Sie sicher?»
    «Nein. Es könnte sich genauso gut um einen Daumen oder eine Schamlippe handeln.»
    «Ah ja, verstehe.»
    Ich kann auf dem Bildschirm überhaupt nichts Menschenähnliches, geschweige denn Penisähnliches erkennen. Für mich sieht das Ganze aus wie eine pulsierende Kreuzung aus einer Kaulquappe und einer Portion Grießbrei. Aber das sage ich natürlich nicht, denn so was kann sich ja im Laufe der Jahre durchaus noch rauswachsen.
    Leonie scheint ebenfalls ein wenig besorgt zu

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