Schwerelos
desillusionierten Standpunkte gestritten, zuletzt bei drei Flaschen Barolo bei seinem Lieblingsitaliener «Cucina d’Elisa».
Er nannte mich eine alberne Ziege, die sich mit Ende dreißig immer noch weigert, aus ihrer rosa Puppenstube auszuziehen. Ich beschimpfte ihn als verbitterten Zyniker, der zwei Frauen betrügt und ohne Hoffnung dahinvegetiert.
«Hoffnung ist eine hübsche Sache, aber für eine Beziehung leider nicht zu gebrauchen», hatte er entgegnet. «Konzen trieren Sie sich bei der Partnerwahl lieber auf Pragmatisches: sonntags ‹Tatort› oder lieber die Rosamunde-Pilcher-Verfilmung? Bausparvertrag oder Luxusreisen? Zweisamkeit oder Geselligkeit?»
Am liebsten hätte ich ihm mit störrischem Fußstampfen mein Lieblingsargument entgegengeschleudert: «Was Sie da sagen, klingt richtig, aber es fühlt sich total falsch an. Manno!» Aber ich wusste, er würde sich durch so was nicht beeindrucken lassen. Wenn er in seinen Artikeln meine Standpunkte verwertet, klingt das meist so: «Eine ebenso weitverbreitete wie höchst naive Ansicht ist …»
«Ich finde, Sie sollten Ihren Freund heiraten, Rosemarie. Sie haben mir doch erzählt, dass er Ihnen kürzlich einen Antrag gemacht hat.»
«Und wie kommen Sie jetzt bitte darauf?»
«Ich habe über Sie nachgedacht. Vergessen Sie Ihre alberne Bedenkzeit. Sagen Sie ganz schnell Ja.»
Ich war ein wenig gerührt.
«Herr Conradi, ich wusste ja gar nicht, dass in Ihnen ein Romantiker steckt.»
«Sie irren. Sie sollten Ihren Freund heiraten, weil Sie ihn nicht lieben. Und das ist geradezu ideal für eine Langzeitehe.»
«Das, Herr Conradi, ist eine Unverschämtheit.»
«Nein. Das, Frau Goldhausen, ist die Wahrheit.»
Ich schlug ihm vor, eine Überdosis der Beruhigungstabletten zu nehmen, die ich ihm besorgt hatte, und ging zeitnah.
Leonie war von meinem Vorschlag, ihr Kind mit Hilfe zweier schwuler Ersatzväter großzuziehen, nicht im Geringsten moralisch entrüstet. Je mehr ich ihr auf der Fahrt nach Hamburg von Erdal und Karsten erzählte, desto größer wurde ihre Begeisterung.
«Seitdem Ehen nicht mehr halten, sind Patchworkfamilien doch der Normalzustand. Bei mir ist es allerdings schiefgegangen. Meine Stiefmutter und ihre pubertierende Tochter konnten mich nicht leiden, und mein Vater war zu schwach, um denen ihr dauerndes Mobbing auszutreiben. Und schau mich an: Ich bin in Therapie, seit ich zwanzig bin. Ich habe keinen Job und keine Beziehung länger als zwei Jahre durchgehalten, und meine Selbstfindungstrips in fernen Ländern haben das Gefühl von Leere vergrößert. Ich weiß, man soll mit fast dreißig nicht mehr alles aufs Elternhaus schieben, aber ich bin nicht geliebt worden und habe deshalb nicht gelernt, mich selbst zu lieben. Und jetzt habe ich Angst, eine Mutter zu sein, die ihrem Kind keine Liebe geben kann.»
«Du wirst dich prächtig mit Erdal verstehen. Nach sechs Jahren Behandlung hat ihm sein Therapeut letzte Woche eröffnet, dass er so weit ist, alleine klarzukommen. Jetzt sucht Erdal einen neuen Therapeuten, der ihn nicht unverschämterweise für gesund hält.»
«Was hat er denn?»
«Besser du fragst, was er nicht hat. Er kriegt zum Beispiel keine Luft mehr, wenn ihm etwas nicht passt. Und dann hat er noch so Sachen wie Höhenangst, Platzangst und Flugangst.»
«Flugangst habe ich auch. Aber zwanzig Tropfen Valium eine halbe Stunde vor dem Start, und ich bin so cool, dass ich die Maschine selber fliegen könnte.»
«Erdal weigert sich, Beruhigungsmittel zu nehmen. Sollte das Flugzeug ins Meer stürzen, fürchtet er, der Einzige zu sein, der nicht überlebt, weil er vor lauter Benommenheit die Schwimmweste nicht anlegen konnte.»
«Und du, Marie, ist das Leben gut zu dir? Meine Stiefmutter hält dich immer als leuchtendes Beispiel hoch, wenn sie mir beweisen will, wie verpfuscht mein Leben sei. Es ist immer die gleiche Leier: ‹Die Marie verdient schon lange ihr eigenes Geld, und sie hat so einen angenehmen Freund, der sie sicher bald heiraten wird.›»
«Wie grauenvoll. Du musst mich ja hassen.»
«Im Grunde hat sie ja recht. Ich beneide dich: ein geordnetes, klares Leben und genau wissen, wohin man will, und irgendwann dort ankommen. Lebensziel erreicht. Punkt. Ich bin nur Umwege gegangen. Ich habe noch nicht mal eine Lohnsteuerkarte.»
Sie wischte sich mit einer störrischen Bewegung die Augen.
«In meiner Handtasche sind Taschentücher.»
«Danke.»
Ehrlich gesagt tat es mir ganz gut, dass jemand mein Leben zur
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