Schwerter und Rosen
quietschende Holztreppe zu den Kammern der Pagen und Knappen erklommen hatte. Man würde sehen. Die heutige Audienz würde Harold Gewissheit über seinen neuen Dienstherrn bescheren, und der ihn zermürbenden Ungewissheit zumindest in dieser Hinsicht ein Ende setzen. Den Brief an Henry, den er ursprünglich hatte behalten wollen, hatte er am vergangenen Abend in eines der vielen Feuer im Hof des Towers geworfen.
Der Junge wagte es kaum, den Blick zu heben und den erschreckend riesigen König oder seine erhaben wirkende Mutter anzusehen. Und so ließ er die Augen unter niedergeschlagenen Lidern über die Schuhe und Beine des anwesenden Hofstaates wandern, während das höfliche Geplänkel zwischen Guy und Richard an ihm vorbeiplätscherte. Die zierlichen Schühchen der Damen bildeten einen starken, beinahe bizarren Kontrast zu den schweren, teilweise gepanzerten Stiefeln der Männer, die mit strengen Mienen jede seiner ungeschickten Bewegungen zu verfolgen schienen. Fast fühlte es sich an als brannten die Blicke Löcher in sein bestes Surkot. »Ich kann ihn brauchen!«, drang plötzlich eine dröhnende Stimme in sein Bewusstsein, und Harold hob den Kopf, um einen hochgewachsenen, breitschultrigen Mann vortreten zu sehen, dessen braun-grüne Augen halb verächtlich auf ihm lagen. Den schwarzen Schopf trug er wie beinahe alle Normannen im Nacken kurz, und über dem energischen, mit bläulichen Bartstoppeln bedeckten Kinn verzog sich ein schmallippiger Mund zu einem freudlosen Lächeln. »Steh auf, Bursche!«, befahl Richard ungeduldig, als Harold keine Anstalten machte, sich zu rühren. Und der Knabe rappelte sich hastig auf die Beine, um auf den Adeligen zuzustolpern. Schwer fiel die Pranke seines neuen Dienstherrn, dessen prächtigen Umhang das Wappen des Earls of Essex zierte, auf seine knochige Schulter. Als Harold zu ihm aufblickte, fiel ihm eine kleine, sichelförmige Narbe am Kinn des Mannes auf.
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Solange der junge Mann von seinem neuen Herrn begutachtet wurde wie ein Gaul auf dem Pferdemarkt, beugte sich Catherine de Ferrers zu der neben ihr stehenden Sophie hinüber, um ihr hinter vorgehaltener Hand ins Ohr zu flüstern: »Er hat ganz rote Ohren.« Da die Freundin sie um beinahe einen Kopf überragte, musste sie sich mächtig strecken, um sich Gehör zu verschaffen. »Hmmm«, erwiderte diese allerdings geistesabwesend und warf Harold einen flüchtigen Blick zu. Seit einigen Tagen wirkte das schlanke Mädchen bedrückt und in sich gekehrt, aber bisher war es Catherine noch nicht gelungen, der Freundin abzuringen, was ihr auf dem Gemüt lastete. Vermutlich war es einfach ihre Art, mit all der Aufregung um den neuen König umzugehen, dachte Catherine. Wie den meisten der Hofdamen flößte der riesige König auch ihr Furcht ein und mehr als einmal hatte sie sich bereits gefragt, wie es wohl sein würde, ihn aus nächster Nähe zu sehen. Bisher waren die Frauen immer durch Scharen von Höflingen vom direkten Geschehen abgeschnitten gewesen. Aber vielleicht änderte sich das ja eines Tages. Der Gedanke erfüllte sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bangigkeit, und sie war froh, nicht am Kopfende des Raumes auf dem Boden knien zu müssen. Mit einem leichten Stirnrunzeln wandte sie sich wieder der Versammlung zu und ließ den Blick über den schlaksigen, blonden Knappen mit den unverschämt blauen Augen gleiten. Trotz seines verdatterten Gesichtsausdruckes gefiel er ihr außerordentlich, auch wenn er in diesem Moment alles andere als männlich erschien. Wie er mit gesenktem Kopf neben seinem neuen Dienstherrn stand und bemüht war, sich die Scham nicht anmerken zu lassen, eroberte er ihr Herz im Sturm. Der streng wirkende Earl of Essex, neben dem der Knabe schmächtig und klein aussah, blickte mit zusammengezogenen Brauen auf seinen neuen Knappen hinab, während die nächste Delegation vor dem zukünftigen König auf die Knie fiel. Die stark ausgeprägte Adlernase verlieh seinem Profil etwas Bedrohliches, das selbst die erstaunlich langen Wimpern nicht kaschieren konnten. Als er sich schließlich mit dem Knaben im Schlepptau umwandte, um sich wieder in die Menge der Zuschauer einzureihen, wandte er den Hofdamen kurz das Gesicht zu. Und Catherine hätte um ein Haar laut aufgeschrien. Wie von einem Unwetter weggefegt, waren alle Gedanken an den jungen Mann vergessen, als ihr das Entsetzen bis ins Mark fuhr. Keuchend griff sie nach dem Arm der Freundin, um sich daran festzuklammern. »Der Himmel steh mir
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