Schwester Lise
Schwester Eldrid hatte ja - “
„Ach ja, richtig. Ich glaube, es ist überhaupt besser, wenn Schwester Eldrid sich ihrer ein bißchen annimmt. Ich fürchte, Sie sind etwas zu weichherzig.“
„Ich - ich - “
Dr. Claussen fiel ihr ins Wort. Sie griff nach der Zeitschrift, die auf dem Tische lag.
„Ich habe da gerade etwas Interessantes gelesen: eine Abhandlung über hysterische Patienten. Ich meine jetzt nicht die Art von Hysterie, die wir für gewöhnlich mit diesem Wort bezeichnen. Ich spreche von der Hysterie als Krankheit. Sie wissen ja, es ist wirklich eine Krankheit. Und wir haben augenblicklich ein typisches Beispiel dafür unten auf Nummer achtundzwanzig, einer der interessantesten Fälle, die mir begegnet sind.“
„In... - interessieren Sie sich denn für Frau Ervik?“
„Und ob! Ich habe sogar so viel Zeit auf diese Person verwandt, daß es eine Schande ist. Noch gestern im medizinischen Klub haben wir fast von nichts anderem gesprochen. Ich habe so viel Material über sie gesammelt, daß ich jeden Tag eine Doktorarbeit über sie schreiben könnte.“
„Ja, aber - ja, aber - “
„Ja, es war nicht so einfach; denn ich mußte doch auch auf den Menschen Rücksicht nehmen. Wenn ich sie heilen will, kann ich mich nicht zu ihr aufs Bett setzen und sie aushorchen. Sie würde sich sofort als Mittelpunkt vorkommen und die Gelegenheit wahrnehmen, ihre Hysterie zu hätscheln, und das gerade darf sie um keinen Preis! Ich bin etwas zu rücksichtsvoll, verstehen Sie - trotz allem bin ich der Ansicht, daß die Patienten in erster Linie Menschen sind und nicht nur Studienobjekte und Versuchskaninchen!“
Eirin hörte mit offenem Munde zu. Der Fall Frau Ervik stand mit einem Schlag in einem ganz neuen Lichte vor ihr. Frau Dr. Claussen war also die Gütige und Hilfsbereite gewesen, während sie selbst herumgerannt war und der Patientin aus purer Dummheit Schaden zugefügt hatte!
„Sie haben sich wohl so viel mit ihr unterhalten, daß Sie in ihre privaten Verhältnisse Einblick gewonnen haben, nicht wahr? Jetzt hören Sie mal zu, wie es wirklich zusammenhängt.“ Frau Dr. Claussen zündete sich eine neue Zigarette an und schob Eirin das Kästchen hin. Als Eirin dankend ablehnte, suchte Frau Dr. Claussen zerstreut mit der Hand unter den Büchern und Zeitschriften in dem Fach unter dem Tisch, fand, was sie suchte, und reichte es Eirin hinüber. Es war eine Schachtel Konfekt.
„Essen Sie, Schwester Lise! Ich mache mir nichts aus dem süßen Zeug.“
Eirin nahm zögernd ein Stück Marzipan, und Dr. Claussen hub an: „Dieses Menschenkind ist also fünfunddreißig Jahre alt. Sie war einziges Kind, und ihre Eltern waren ganz wohlhabend. Etwas kränklich war sie immer, etwas blutarm, etwas matt, etwas blaß, wie es bei jungen Mädchen ja häufig vorkommt. Die Mutter hatte große Pläne mit der Tochter und schwatzte ihr vor, daß sie das achte Weltwunder sei, so intelligent, so begabt und dergleichen Geschwafel mehr. Alle Pläne der Mutter liefen nur auf eins hinaus: Die Tochter sollte eine gute Partie machen. Mit anderen Worten, sie sollte sich einen Mann kapern, der viel Geld hatte und außerdem den Schatz zu würdigen wußte, den er bekam.
So erstaunlich es war, eines Tages tauchte tatsächlich ein Mann auf, der sich in sie verliebte, ein guter und braver junger Mann mit guten Einkünften. Das Mädel war mittlerweile so alt geworden, daß sie und auch die Mutter von Torschlußpanik gepackt wurden. Der Mann bekam natürlich auf der Stelle ihr Jawort.
Nun wurde eine Aussteuer beschafft, für die nichts gut genug war, und es wurde Hochzeit gefeiert und eine Hochzeitsreise gemacht - viel zu üppig und viel zu lange. Direktor Erviks Geschäft litt unter seiner langen Abwesenheit. Aber er sollte in den folgenden Jahren noch mehr leiden. Die gnädige Frau war, wie sich herausstellte, putz- und vergnügungssüchtig. Die Mutter nannte das Schönheitssinn und Kunstverständnis. Sie wurde immer unzufriedener; je mehr der Mann sich anstrengte, all das zu beschaffen, was sie forderte, desto unzufriedener wurde sie. Schließlich wurde es bei ihr zu einer Krankheit, und wenn sie keinen Anlaß zur Unzufriedenheit fand, zog sie ihn an den Haaren herbei. Zuletzt behauptete sie, sie habe ein verstecktes Leiden, und begehrte, ins Krankenhaus zu kommen. So stark kann bei einem Menschen der Drang werden, Mittelpunkt zu sein, verstehen Sie? Es gibt Frauen, die eine Krankheit so gut vortäuschen, daß schwere Operationen
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