Schwester Lise
allmächtigen Krankenhausärzte!“ Die Ärztin erhob sich, und Eirin verstand, daß die Audienz beendet war.
Sie stand vor der aufrechten, starkknochigen Gestalt mit dem kurzen, männlich geschnittenen Haar und dem Zigarettenstummel zwischen den Fingern. Eirin biß sich auf die Lippe. Dann streckte sie die Hand aus: „Ich bitte um Verzeihung!“ Marit Claussen drückte die kleine Hand kräftig. „Schon gut, Schwester Lise. Sie sind sicher ein verständiges Mädel. Gute Nacht, mein Kind!“
Und dann stand Eirin draußen und wurde sich plötzlich mit Erstaunen bewußt, daß die Doktorin ihr zum Abschied einen freundschaftlichen Klaps auf die Backe gegeben hatte.
Da lächelte sie plötzlich, strahlend und glücklich. Sie flog die Treppen hinunter, durch die Korridore und Treppen nach oben und durch neue Korridore, stürmte in ihr und Ingas Zimmer mit wuschligem Haar, die Haube in der Hand.
„Was ist denn mit dir los?“ fragte Inga verwundert. Eirin warf sich aufs Bett, daß es in allen Fugen krachte, und zappelte mit den Beinen.
„Mit mir? Nichts - bloß daß ich unwahrscheinlich guter Laune bin. Und Krankenpflege ist tatsächlich der einzige Beruf, der was taugt. Das Leben ist im Grunde doch gar nicht so übel, Inga!“
In ihrem Wohnzimmer, unter der Lampe, stand Frau Dr. Claussen, zündete sich eine neue Zigarette an, tat einen Zug und lächelte zur Zimmerdecke hinauf. Sie vergaß, das Zündholz auszupusten, schlug es ein paarmal achtlos durch die Luft, stand dann wieder versonnen und lächelte nachdenklich. Dann versengte sie sich die Finger, blies das Hölzchen schnell aus, setzte sich in ihren guten, eingesessenen Lehnstuhl und nahm eines ihrer Lieblingsbücher zur Hand - eine vielbenutzte und ganz zerlesene Ausgabe von „Les Misérables“.
16
Die Kolleginnen begriffen nicht, was in Schwester Lise gefahren war.
Ihre Stimme klang fröhlich, die Arbeit ging ihr munter von der Hand, und sie war reizend und sanft zu den Patientinnen. Schwester Eldrids Gekeife konnte ihr nichts mehr anhaben. Sie lächelte, wenn sie schimpfte, sie sorgte für gute Laune, wenn Patientinnen jammerten, sie tröstete, wo Trübsal aufkommen wollte. Es fehlte nicht viel, und Schwester Lise war die beliebteste Pflegerin auf der ganzen Station.
Nur eine Patientin war nicht mit ihr zufrieden: Frau Ervik im großen Saal! Sie war enttäuscht; denn aus war es mit den tröstlichen Worten und dem Backenstreicheln. Schwester Lise hatte es stets eilig und so viel zu tun, daß Frau Ervik keine Gelegenheit fand zu erklären, wie sehr sie litt. Die Mitpatientinnen redeten und machten einen Heidenkrach. Sie zwangen Frau Ervik, sich mit Essenproblemen und Filmen, Kleidern und Hausgehilfinnenfragen und tausend anderen Dingen zu befassen. Bald galt es als offenes Geheimnis, daß Frau Ervik sich nicht mehr so krank fühlte. Das ewige Geschwabbel der beiden Frauen hatte zur Folge, daß sie sich, wenn auch zunächst widerstrebend, nach Hause sehnte, in einen Bereich, in dem es immerhin einige Pflichten für sie gab.
Eirin war glücklich. Immer öfter fand sie bestätigt, daß sie sich nützlich machte. Und so gewann sie mit der Zeit ihre Selbstachtung zurück. Die Aussicht, Halfdan wieder unter die Augen zu treten, nahm greifbarere Formen an.
Sie hatte Nachtdienst in der medizinischen Abteilung.
Auch wenn es auf der Station still war, wurde ihr jetzt die Zeit nicht mehr lang. Sie hatte zu viele Nächte auf der Wache zugebracht, um nicht gelernt zu haben, sich mit Lesen, Essen und einer Handarbeit genauso einzurichten, als sei es Tag.
Der „große Junge“, Dr. Kjeller, war ebenso verrückt wie Gard in der Chirurgischen. Die beiden Ärzte waren übrigens befreundet. Kjeller tat zur Zeit Dienst in der Inneren. Sooft er konnte, schlüpfte Gard zu ihm hinüber; dann traten sie einen Bittgang zu Schwester Lise an und bekamen ihren Kaffee.
Einmal spielten die beiden Schlingel Eirin einen Streich.
Sie war eines Abends sehr müde gewesen. In den ersten Nachtstunden hatte es viel zu rennen gegeben, und am Tage hatte sie nur wenig geschlafen. Als sie sich endlich auf ihren Hocker setzen konnte und den Kopf an die Wand lehnte, geschah es, daß sie einschlief!
Sie erwachte mit einem Ruck. Du liebe Zeit! - Auf der Nachtwache schlafen! Das sollte Schwester Eldrid ahnen!
Sie blinzelte schlaftrunken auf die Nummerntafel. Da sperrte sie mit einemmal die Augen weit auf: Die rote Lampe leuchtete ihr entgegen, und alle Nummern auf der Tafel waren
Weitere Kostenlose Bücher