Schwester Lise
legte das Kind behutsam in sein Gitterbettchen zurück. Nicht denken! Schwamm drüber! An das Heute denken, an die Arbeit, die Kinder im Kindersaal! - Himmel! Sind die süß! Und viele von ihnen sind so zutraulich, dabei so klein und hilflos. Am liebsten nähme sie sie alle auf einmal in den Arm.
Es war kalt draußen. Zum zweiten Mal verbrachte Eirin das Weihnachtsfest im Krankenhaus. In einer Woche war Heiligabend. Sie sollte den Baum im Kindersaal schmücken und dem Weihnachtsmann behilflich sein, Geschenke auszuteilen. Dr. Gard war der ideale Weihnachtsmann, er hatte zweifellos
schauspielerisches Talent.
Sie mußte ein kleines Ding in die Röntgenabteilung hinüberbringen. Sie packte das Kind in eine Wolldecke ein, warf sich selbst eine Strickjacke über das blaue Leinenkleid und rannte los. Der Schnee im Krankenhaus garten knirschte unter ihren Füßen, und Eirin fühlte, wie ihre Nasenspitze feuerrot wurde. So was von Kälte!
In der Tür zur Röntgenstation stieß sie mit einer Gestalt in weißem Kittel zusammen.
„Oh, Verzeihung!“
„Pardon!“
Es war Gard.
„Ah, Schwester Lise, da hab’ ich ja Glück, daß ich Sie getroffen habe. Haben Sie morgen nicht frei?“
„Doch, ich - “
Gard drehte sich halb um, und eine zweite Gestalt tauchte aus dem Hintergrund auf - ein großgewachsener, braungebrannter, lächelnder junger Mann.
„Fredrik, das ist Schwester Lise, von der ich schon erzählte. Schwester Lise - dies ist Dr. Branstad, ein Freund von mir.“
Gard redete zwar immer noch, aber Eirin hörte kein Wort mehr. Sie starrte in das lächelnde Gesicht, an das sie öfter gedacht, von dem sie öfter geträumt hatte, als sie selbst wahrhaben wollte. Sie sah den schöngeformten Mund, der nie geküßt hatte. Sie sah die Schultern, an denen sie gelehnt hatte, die Hände, die sie beim Tanz umfaßt hatten - mit einem Schlage stand jener seltsam schöne Herbsttag vor zwei Jahren vor ihren Augen.
Fredrik Branstad holte sie in die Gegenwart zurück: „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Schwester Lise. Gard hat mir viel von Ihnen erzählt. Wirklich ein Glück, daß wir Sie hier erwischt haben, wir wollten nämlich gerade - “
„Halt jetzt den Mund, mein Junge! Ich wollte gerade Schwester Lise für morgen einladen - nicht wahr, Schwester Lise, Sie gehen doch sicher gern mit und essen irgendwo nett zu Abend mit uns, ich werde auf Sie aufpassen, der Branstad darf Ihnen nichts tun - er ist ein Gefährlicher, wissen Sie!“
„Pscht, Stoffer! Du ahnst nicht, was für ein anständiger junger Mann ich im Ausland geworden bin. Lassen Sie sich nicht kopfscheu machen, Schwester Lise, sagen Sie nur einfach ja, und kommen Sie mit. Ich bin überzeugt, daß Sie sich in Menschenkleidern sehr hübsch ausnehmen - olala!“
Sein Ausruf galt einem energischen Gebrüll, das aus dem Wolldeckenbündel in Eirins Armen kam.
„Ich muß gehen“, sagte sie und schlüpfte an Fredrik vorbei. Gard rief ihr noch etwas nach, sie brachte noch ein heiseres „Ja“ heraus -dann schloß sich die Tür hinter ihr, und sie sank mit dem Kind auf dem Schoß auf eine Bank nieder.
Er hatte sie nicht erkannt. Er hatte sie nicht erkannt! Sie konnte sich seiner genau entsinnen. Sie hatte sich damit herumgeschlagen. Sie hatte von ihm geträumt! - Sie hatte sich schuldig gefühlt! Sie hatte bereut und gebüßt - und er -, er hatte sie nicht einmal wiedererkannt! Er hatte sie auf der Stelle wieder vergessen!
Eirin betrachtete sich im Spiegel. Das Haar war unter der Haube stramm zurückgekämmt, und die Nase glänzte trostlos rosenrot von der Kälte draußen. Über die Tracht hatte sie eine alte, verwaschene und überall gestopfte Jacke gezogen. Ihre Hände, die das Wolldeckenbündel hielten, waren rot und aufgesprungen, und die
Nägel waren kurz geschnitten - zweckentsprechend, aber nicht schön.
Dann kam die Röntgenschwester und rief sie, und sie brachte das Kind hinein.
An diesem Abend stand sie lange und rieb die Hände mit Goldcream ein, sie steckte die Fingerspitzen in Seifenwasser und schob die Nagelhaut zurück. Für morgen mußte sie sich etwas Nagellack und Puder von Schwester Doris ausleihen. Das Haar hatte sie schon gewaschen, damit es blank und lebendig wurde und sich lockte.
Während sie mit dem Rücken gegen die Heizung saß, damit das Haar etwas schneller trocknete, brachen alle Erinnerungen wieder über sie herein. Sie wußte noch jedes Wort, das an jenem Abend an Bord gesprochen wurde und an dem
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