Schwester Lise
sie sich nie mehr davon würde trennen können.
Eirin riß ihren müden kleinen Kopf hoch und ging wieder ans Werk. Ihre Willenskraft wuchs mit der Größe ihrer Aufgaben. „Nur jetzt nicht unterkriegen lassen“, hämmerte sie sich ein. „Jetzt nicht mehr-!“ Und sie widmete sich in demütiger Dankbarkeit und doppelter Hingabe ihrer Arbeit, jener Arbeit, die ihr nach schwerem Kampf Zufriedenheit und Selbstachtung zurückgegeben hatte.
Da sie für andere arbeiten mußte, im steten, täglichen - oder meist nächtlichen - Trott, blieb ihr keine Zeit, ihrem eigenen Leid nachzuhängen. Sie sah nur zu wenig andere Menschen, was zur Folge hatte, daß sie sich einsam fühlte. Die langen, manchmal stillen Nachtwachen taten das Ihrige dazu.
Es war in einer Nacht zum Sonntag. Der Morgen graute - ein diesiger Septembermorgen. Eirin räumte nach dem Kaffeetrinken auf, wusch das Geschirr ab und stellte alles weg. Sie hatte wie gewöhnlich von Gard und Kjeller Besuch gehabt, und diesmal hatten sie einen Klecks Butter, ein paar Semmeln und einen kleinen Kanten Schweizer Käse dagelassen.
Eirin lebte üppig von den Leckereien, die die „Jungen“ übrigließen.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Schwester Ilse hatte heute frei. Sie sollte ausnahmsweise mal Kaffee im Bett trinken! Ilse stand ganz allein, hatte außerhalb des Krankenhauses keinen Menschen; ihr wollte sie jetzt eine gemütliche Stunde bereiten. Heute sollte sie mal nicht zum Kaffee hinuntergehen müssen.
Als die Morgenarbeit getan und Eirins Dienst beendet war, filterte sie Kaffee aus ihrem eigenen Vorrat, strich die Semmeln und richtete ein appetitliches kleines Kaffeetablett an.
In der Tür stieß sie auf Schwester Eldrid.
„Wo wollen Sie mit dem Tablett hin?“
„Hinauf zu Schwester Ilse! Sie soll ausnahmsweise mal im Bett Kaffee trinken. Was glauben Sie, wie sie sich freuen wird! Guten Morgen übrigens, das habe ich ganz vergessen!“
„Sie dürfen kein Geschirr von der Station wegnehmen! Und der Kaffee -?“
„Der Kaffee ist mein eigener. Die Sahne und die Semmeln auch. Und mit den Tassen und der Kanne komme ich in einer Viertelstunde zurück.“
„Kennen Sie noch immer nicht die Krankenhausvorschriften, Schwester Lise? Es darf kein Geschirr aus der Station entfernt werden, und ich kann mit Ihnen keine Ausnahme machen.“
„Sie verbieten mir also, einer Kollegin eine kleine Sonntagsfreude zu machen?“ Eirins Stimme bebte vor Wut.
„Ich verbiete Ihnen, die Krankenhausvorschriften zu verletzen! Sie können gehen! Sie sind jetzt frei. Aber das Geschirr lassen Sie hier!“
Ohne noch ein weiteres Wort zu erwidern, schob Eirin die Semmeln auf ein Papiertellerchen. Die Tasse stellte sie in den Schrank, den Teelöffel legte sie in die Schublade zurück. Dann ging sie an den Ausguß und schüttete die Sahne und den dampfenden, duftenden Kaffee aus - schön langsam und bedächtig, Schwester Eldrid sollte es sehen und darüber nachdenken, was sie für ein Filou war!
„Du liebe Zeit!“ ließ sich eine ausgeschlafene, frische Stimme von der Tür her vernehmen. „Was machen Sie denn da mit dem guten Kaffee, Schwester Lise?“
Eirin fuhr herum. In der Tür stand Frau Dr. Claussen im Sportkostüm, fertig zum Ausgehen.
„Niemand bedauert das mehr als ich selbst, Frau Doktor“, sagte Eirin, jedes Wort betonend. „Ich war leider im Begriff, gegen die Krankenhausvorschriften zu verstoßen; ich wollte nämlich einer Kollegin Kaffee ans Bett bringen. Sie ist ganz allein in der Stadt, und kein Mensch tut jemals etwas für sie. Ich ließ, wie schon öfter, mein allzu weiches Herz mit mir durchgehen und vergaß, daß man kein Geschirr aus der Station wegnehmen darf. Aber zum Glück kam
Schwester Eldrid im rechten Augenblick dazu und erinnerte mich daran.“
Eirins Stimme klang so wohlerzogen, und ihre Ausdrucksweise war so gewählt, daß Schwester Eldrid die beißende Ironie heraushören mußte.
Frau Dr. Claussen ließ ihren aufmerksamen Blick von der einen zur anderen schweifen - von der etwas schuldbewußten, herrschsüchtigen, mißgünstigen, alternden Frau zu dem erzürnten, aber durchaus gefaßten jungen Mädchen.
„Ja, Vorschrift ist Vorschrift“, sagte die Ärztin kurz. „Ich bin übrigens nur gekommen, um zu fragen, wie es mit dem Magenbluten auf Nummer zwölf geht.“
„Die Nacht ist ruhig gewesen, Frau Doktor.“
„Das ist schön, Schwester Eldrid, bitten Sie Dr. Kjeller von mir, daß er im Laufe des Tages ein paarmal nach ihr sieht.
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