Schwesterlein, komm stirb mit mir
Schummerlicht des Parkplatzes, dann wurde es wieder still. Erst jetzt fiel Liz auf, wie einsam der Platz gelegen war. Nur ganz entfernt hörte man Verkehrslärm, das Pulsieren der Lebensadern der Stadt. Um sie herum jedoch herrschte absolute Stille.
Hastig machte Liz sich auf den Weg zu ihrem Wagen, der unter einer Laterne stand. Das Licht fiel so auf die schmutzige Heckscheibe, dass sie die Worte sofort erkannte, die jemand in den Schmutz geschmiert hatte:
Ich hatte dich gewarnt.
Mittwoch, 30. Oktober, 9:24 Uhr
Nachdenklich betrachtete Liz den Golf, der vor dem Haus am Straßenrand stand. Gestern war wieder einer der Abende gewesen, an denen sie nicht gewagt hatte, in die Garage zu fahren. Den Schriftzug hatte sie hastig weggewischt, wütend über die Angst, die ihr der Unbekannte einjagte. Dumm von ihr, denn an der Heckscheibe hätte die Polizei womöglich Fingerabdrücke sichern können. Dazu hätte sie jedoch Stadler von den anonymen Briefen erzählen müssen, und das wollte sie nicht. Er wusste ohnehin schon viel zu viel über sie.
Was für ein Schlamassel. Dabei hatte sie in Düsseldorf endlich zur Ruhe kommen wollen. Sie mochte die Stadt, verband schöne Erinnerungen mit ihr, aus einer Zeit, als ihre Welt noch heil gewesen war. Als kleines Mädchen war sie oft mit ihrer Mutter zum Einkaufen nach Düsseldorf gefahren, nur Mama und sie. Frauentag, hatten sie es genannt. Sie waren über die Kö geschlendert, hatten die Boutiquen unsicher gemacht und ein paar unverschämt teure Accessoires erstanden, einen Seidenschal oder ein Paar Ohrringe, und am Ende hatten sie irgendwo gegessen, am liebsten mit Blick auf den Rhein. Später durfte Liz auch allein mit ihren Freundinnen in die Stadt fahren, doch die Freude an der neuen Freiheit hatte nicht lange gewährt.
An diese schönen Erinnerungen hatte Liz anknüpfen wollen, als sie sich für Düsseldorf als Wohnort entschied. Und in mancher Hinsicht war die Rechnung aufgegangen. Sie fühlte sich wohl in der Stadt und empfand sie als ihr Zuhause. Zumindest hatte sie bis vor wenigen Wochen so empfunden. Bis sie den ersten Brief erhalten hatte.
Liz trat vom Fenster weg und ging in die Diele. Sie sollte ihre Mutter anrufen. Sofort. Bevor ihr wieder eine Ausrede einfiel. Sie schob das Gespräch schon viel zu lange vor sich her.
Sie drückte die Kurzwahltaste und lauschte dem Rufton. Niemand hob ab. Liz war erleichtert und schämte sich dafür. Sie verbrachte den Vormittag damit, die Wohnung gründlich aufzuräumen, und versuchte, dabei an nichts zu denken. Sie wusch Wäsche, putzte das Bad und die Küche und fuhr sogar ins Gartencenter, um winterfeste Pflanzen für den Balkon zu kaufen. Es gab ihr das Gefühl, einen Teil ihres Lebens für sich zurückzuerobern.
Zum Mittagessen schob sie eine Tiefkühlpizza in den Backofen. Während sie aß, sah sie unter dem Sofa etwas blinken. Sie stand auf und hob den Gegenstand auf. Deborahs Handy. Verwundert betrachtete sie das Telefon. Deborah hatte sich noch gar nicht gemeldet, seit sie am Montag abgereist war. Bisher hatte Liz sich nicht weiter darüber gewundert. Es war nicht Deborahs Angewohnheit, anzurufen und mitzuteilen, dass sie gut angekommen war. Im Gegenteil, es war normal, dass Liz wochenlang nichts von ihrer Freundin hörte. Doch wenn Deborah ihr Handy hier vergessen hatte, hätte ihr das längst auffallen müssen.
Deborah hatte sich mit ihrer Supermarktbekanntschaft treffen wollen, bevor sie abreiste. Der Typ schien ihr ziemlich den Kopf verdreht zu haben. Vermutlich hatte sie deshalb in der Aufregung gar nicht gemerkt, dass sie das Telefon nicht dabeihatte. Möglicherweise nahm sie an, dass sie es im Zug verloren hatte, und hatte deshalb nicht bei Liz nachgefragt.
Liz ging in die Diele und wählte Deborahs Festnetznummer. Doch wieder hob niemand ab. Nach einer Weile sprang der Anrufbeantworter an.
«Hi, Deb, Liz hier. Ich hoffe, du bist gut angekommen. Rate mal, was ich gerade gefunden habe: dein Handy. Ich schätze, du hast es schon vermisst. Soll ich es dir per Post schicken? Ruf mich an.»
In dem Moment, als Liz auflegte, klingelte das Telefon. Erschrocken hob sie wieder ab. «Deb?»
«Frau Montario? Georg Stadler hier.»
«O, ich dachte, es wäre meine Freundin. Hallo, Herr Stadler.»
«Ich hoffe, Sie sind nicht allzu sehr enttäuscht?»
Flirtete er mit ihr? Oder war sie mal wieder hypersensibel? «Wie kann ich Ihnen helfen?», fragte sie förmlich.
«Hätten Sie Zeit, aufs Präsidium zu kommen? Es
Weitere Kostenlose Bücher