Schwesterlein, komm stirb mit mir
ins Krankenhaus. Er bestand darauf, dass sie nicht fahrtüchtig war, und sie wehrte sich nicht dagegen. Auf der Fahrt stellte er vorsichtig einige Fragen.
«Können Sie sich vorstellen, aus welchem Grund Ihre Eltern beide ins Wohnzimmer hinuntergegangen sind? Wir können nicht nachvollziehen, warum sie nicht zuerst die Polizei verständigt haben – und warum Ihre Mutter mitgekommen ist.»
Darauf wusste Liz keine Antwort. «Ich verstehe das auch nicht», antwortete sie. «Ich kann es mir nur so erklären, dass sie keine Gefahr erwartet haben. Vielleicht dachten sie gar nicht an einen Einbrecher, als sie im Wohnzimmer etwas hörten.»
Notebüll verzog skeptisch die Mundwinkel, ohne seinen Blick von der Straße abzuwenden. «Die allermeisten Menschen denken sofort an einen Einbrecher, wenn sie nachts in ihrer Wohnung Geräusche hören. So sind wir leider konditioniert.»
«Ein Tier», schlug Liz vor. «Haben Sie vielleicht ein Tier gefunden?»
«Nein. Wie kommen Sie darauf? Gibt es ein Haustier?»
Liz starrte aus dem Seitenfenster, während Notebüll auf eine Kreuzung zusteuerte. «Meine Mutter wollte immer einen Hund haben, aber mein Vater hat sich strikt geweigert. Ich dachte, möglicherweise hat sie es geschafft, ihn zu überreden.»
«Hätten Sie nicht davon gewusst?», fragte Notebüll.
«Vor ein paar Tagen hat meine Mutter versucht, mich zu erreichen. Ich hatte keine Zeit, habe versprochen, sie später zurückzurufen. Als ich gestern endlich dazu kam, ging sie nicht ans Telefon.»
«Und Sie meinen, sie wollte Ihnen von dem neuen Hund erzählen?»
Liz zuckte mit den Schultern. «Was weiß ich.» Sie glaubte nicht wirklich daran, dass ihr Vater nach all den Jahren klein beigegeben hatte, doch eine andere Erklärung für das Verhalten ihrer Eltern fiel ihr nicht ein. Bis auf den Mann, den ihre Mutter angeblich im Garten gesehen hatte. Doch den wollte sie keinesfalls erwähnen. Dann hätte sie auch erzählen müssen, dass ihre Mutter seit Jahren überall ihren Sohn zu sehen glaubte, und weshalb das so war.
«Wir haben kein Haustier gefunden», erklärte Notebüll. «Aber ich werde die Kollegen bitten, noch einmal verstärkt darauf zu achten. Ein verängstigter Welpe könnte sich irgendwo verkrochen haben.»
Sie sprachen nicht mehr, bis Notebüll auf den Parkplatz des Krankenhauses einbog. «Soll ich Sie begleiten?»
Liz streckte die Hand aus, um sich von Notebüll ihren Wagenschlüssel aushändigen zu lassen. «Nein. Es geht schon.»
«Vielleicht könnten wir morgen noch einmal in Ruhe sprechen?», schlug er vor. «Kommen Sie aufs Präsidium? Ich werde vermutlich den ganzen Tag dort sein.» Er reichte ihr eine Visitenkarte, die sie einsteckte, ohne einen Blick darauf zu werfen.
Es dauerte eine Weile, bis Liz sich zu einem Arzt durchgefragt hatte, der ihr Auskunft geben konnte und auch dazu bereit war. Viel brachte es nicht. Sie wollte ihre Mutter noch einmal sehen, doch der Leichnam war bereits in die Rechtsmedizin gebracht worden. Ihren Vater hatte man nach der Operation in ein künstliches Koma versetzt. Liz saß lange an seinem Bett und betrachtete ihn. Er wirkte verändert. Alt und gebrechlich. Die Hände, die reglos auf der Bettdecke lagen, waren mager und so weiß, dass die Sommersprossen darauf wie aufgemalt wirkten.
Warum hatte er sich dem Einbrecher in den Weg gestellt? Und warum hatte er seine Frau nicht davon abgehalten, ihn zu begleiten? Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Liz streichelte die schlaffe Hand ihres Vaters. Als Anwalt war er ein Kämpfer gewesen, nie idealistisch, dafür hartnäckig und zäh. Doch privat hatte er es immer vorgezogen, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und die Dinge, die es nicht geben durfte, einfach zu ignorieren. So wie die Tatsache, dass seine Frau nie über das hinweggekommen war, was ihr Sohn getan hatte.
Ulrich Vermeeren hatte es vorgezogen, nur das zu sehen, was er sehen wollte. Alles Übrige hatte er aus seinem Leben verbannt, als wäre es gar nicht vorhanden. Niemals hätte er bei einem simplen Einbruch den Helden gespielt. Es passte nicht zu ihm. Was war nur geschehen?
Donnerstag, 31. Oktober, 21:43 Uhr
Georg Stadler öffnete gerade die zweite Flasche Bier, als sein Handy klingelte. Um diese Zeit bedeutete das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts Gutes. Bei den Ermittlungen im Ripper-Fall steckten sie in einer Sackgasse, obwohl sie in Spuren erstickten – oder vermutlich gerade deswegen. Die Herausforderung lag
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