Schwesterlein, komm tanz mit mir
konnte sich nicht erinnern, ob er den Fahrer gesehen hatte. Manchmal träumte er von einem Gesicht.
Erin stieg ein.
Das war der Abend, an dem sie angeblich verschwunden war.
Die Sache war nur die, daß Lenny nicht genau wußte, ob er alles nicht nur geträumt hatte. Und wenn er das der Polizei erzählte, würden sie vielleicht sagen, er sei verrückt, und ihn wieder dahin schicken, wo man ihn einsperrte.
18
SAMSTAG, 9. MÄRZ
A m Samstag um die Mittagszeit saßen die FBI-Agenten Vince D’Ambrosio und Ernie Cizek in einem dunkelgrauen Chrysler auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor dem Eingang von Christopher Street 101.
«Da kommt er», sagte Vince. «Feingemacht für seinen freien Tag.»
Gus Boxer trat aus dem Gebäude. Er trug eine schwarz-rot karierte Holzfällerjacke über weiten dunkelbraunen Polyesterhosen, schwere Schnürstiefel und eine schwarze Mütze mit einem Schirm, der sein Gesicht halb verdeckte.
«Das nennen Sie feingemacht?» rief Ernie aus. «Ich dachte, so würde man sich nur anziehen, um eine Wette einzulösen!»
«Sie haben ihn eben nie in Unterhemd und Hosenträgern gesehen. Gehen wir.» Vince öffnete die Fahrertür.
Sie hatten sich bei der Hausverwaltung erkundigt. Boxer hatte jeden zweiten Samstag von zwölf Uhr mittags bis Montag morgen frei. In seiner Abwesenheit kümmerte sich der stellvertretende Hausmeister José Rodriguez um Beschwerden der Mieter und kleinere Reparaturen.
Rodriguez öffnete, als sie geläutet hatten. Er war ein untersetzter Mann Mitte Dreißig und wirkte unkompliziert.
Vince fragte sich, wieso die Hausverwaltung ihn nicht ganztags beschäftigte. Er und Ernie zeigten ihre FBI-Ausweise. «Wir gehen von Wohnung zu Wohnung und fragen die Mieter nach Erin Kelley. Einige von ihnen waren nicht da, als wir zuletzt hier waren.»
Vince fügte nicht hinzu, daß er heute ganz genau wissen wollte, was die Mieter von Gus Boxer hielten.
Im dritten Stock hatte er Erfolg. Eine achtzigjährige alte Dame kam an die Tür, ohne die Sperrkette zu öffnen. Vince zeigte seine Dienstmarke. Rodriguez erklärte: «Das ist schon in Ordnung, Miss Durkin. Sie wollen Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Ich bleibe hier stehen, wo Sie mich sehen können.»
«Ich verstehe nicht», schrie die alte Frau.
«Ich möchte nur …»
Rodriguez berührte D’Ambrosios Arm. «Sie hört besser als Sie und ich», flüsterte er. «Kommen Sie, Miss Durkin, Sie haben Erin Kelley doch gern gehabt. Wissen Sie noch, wie sie Sie immer fragte, ob sie Ihnen etwas aus dem Supermarkt mitbringen sollte, und wie sie Sie manchmal zur Kirche gebracht hat? Sie wollen doch auch, daß die Polizei den Mann schnappt, der ihr das angetan hat, nicht?»
Die Tür öffnete sich, soweit die Kette das zuließ. «Stellen Sie Ihre Fragen.» Miss Durkin schaute Vince streng an. «Und schreien Sie nicht. Davon bekomme ich Kopfschmerzen.»
In den nächsten fünfzehn Minuten mußten die beiden FBI-Agenten sich anhören, was eine gebürtige New Yorkerin von achtzig Jahren davon hielt, wie die Stadt regiert wurde. «Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht», verkündete Miss Durkin forsch, und ihr graues Haar wippte lebhaft. «Früher haben wir nie die Türen verschlossen. Warum auch? Niemand tat einem etwas zuleide. Aber heute!
Da gibt es all diese Verbrechen, und keiner tut etwas dagegen. Widerlich. Ich sage Ihnen, man sollte all diese Drogenhändler dahin bringen, wo der Pfeffer wächst!»
«Sie haben vollkommen recht, Miss Durkin», sagte Vince müde. «Und jetzt zu Erin Kelley.»
Das Gesicht der alten Frau wurde traurig. «Ein netteres Mädchen können Sie sich nicht vorstellen. Ich würde gern den Mann in die Hand bekommen, der ihr das angetan hat.
Vor ein paar Jahren saß ich zufällig am Fenster und schaute auf das Miethaus auf der anderen Straßenseite. Eine Frau wurde ermordet. Sie kamen herüber und stellten Fragen, aber May und ich – sie ist meine Nachbarin – beschlossen, den Mund zu halten. Wir haben alles gesehen.
Wir wissen, wer es war. Aber die Frau war auch nicht besser, sie hatte es verdient.»
«Sie waren Zeugin eines Mordes und haben der Polizei nichts gesagt?» fragte Ernie ungläubig.
Sofort preßte sie die Lippen zusammen. «Wenn ich das gesagt habe, dann habe ich mich falsch ausgedrückt. Ich meinte, ich habe meinen Verdacht, und May auch. Aber mehr ist es nicht.»
Verdacht! Sie hat diesen Mord gesehen, dachte Vince.
Und er wußte auch, daß niemand jemals sie oder ihre Freundin May
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