Schwesterlein muss sterben
wie vor zu bezweifeln, dass irgendjemand anders damit cooler umgegangen wäre als sie selbst. Schließlich war es Marie gewesen, die eine ganze Nacht lang verschwunden war, ohne Julia etwas zu sagen. Und auch am nächsten Morgen war sie nur erschienen, um Julia mitzuteilen, dass sie ihr gemeinsames Zelt ab sofort für sich alleine haben konnte. »Er heißt Carlos«, hatte sie Julia informiert. »Und er hat mich eingeladen, bei ihm zuwohnen. Er ist hier mit Freunden in einem Haus mit Pool und allem, aber ich kann dich da nicht mitnehmen, so viel Platz ist nun auch wieder nicht. Und wäre vielleicht auch gar nicht so gut, weil ich ihn ja auch gerade erst kennengelernt habe. Das verstehst du doch, oder?«
Nein, das verstand Julia nicht. Und sie packte noch am selben Tag ihre Sachen und stieg in den erstbesten Expressbus. Egal wohin, nur möglichst weit weg von Marie. Ohne sich von ihr zu verabschieden und auch ohne Carlos jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Und falls das überreagiert gewesen sein sollte, konnte sie zu ihrer Verteidigung immerhin anführen, dass gerade die Kinder von Psychologen zu Verhaltensweisen neigten, die vielleicht ein bisschen extremer waren als bei den meisten anderen.
Mittlerweile aber hatte Marie ihr erzählt, dass ihre Geschichte mit Carlos dann ein ziemlicher Flop geworden war, fast schon so was wie ein GAU, der größte anzunehmende Unfall schlechthin. Ihre Worte, nicht Julias.
Als Marie sie gestern noch mal angerufen hatte, um zu sagen, wann ihr Zug kommen würde, war klar, dass Julia es kaum schaffen konnte, sie rechtzeitig vom Bahnhof abzuholen. Ihr Kunstprojekt in der Uni war in der Endphase, und sie konnte es sich nicht leisten, einfach eher zu gehen. Das Projekt war ihr wichtig und machte bei allem Stress auch Spaß.
Marie schien das auch verstanden zu haben, und auf die ein oder zwei Stunden, die sie dann nicht zusammen hätten, kam es nicht wirklich an, immerhin wollte sie ja übers ganze Wochenende bleiben. Jedenfalls hatte Julia ihr noch schnell beschrieben, wo sie den Zweitschlüssel für die Wohnung verstecken würde, und versprochen, sie nicht allzulange warten zu lassen. Ihr Plan stand: nachmittags quatschen und Kaffee trinken, dann vielleicht zusammen kochen und ein oder zwei Glas gut gekühlten Wein trinken, dann ein paar Leute von früher anrufen und runter zur Bryggen laufen, in den neu eröffneten Pub mit dem Biergarten im Hinterhof, der hoffentlich nicht von Touristen überlaufen sein würde. Aber selbst wenn, es war schließlich ihre Stadt, und es gab immer irgendwelche Möglichkeiten, die Touristen so zu verschrecken, dass sie schleunigst das Weite suchten – und sogar noch froh waren, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Julia brauchte sich nur an das letzte Mal zu erinnern, als Hendrik sturzbetrunken und in seinem bescheuerten T-Shirt mit der Aufschrift WE ARE VIKINGS, WE KILL THE WHALES den ganzen Laden aufgemischt hatte.
Jedenfalls war Julia blendender Laune. Das Wetter war immer noch traumhaft, die Arbeit mit den Kommilitonen an ihrem Projekt ging gut voran, auf dem Weg von der Uni nach Hause hatte sie im Vinmonopol noch zwei Flaschen Chablis gekauft, die sie bis zu ihrem Essen in den Kühlschrank legen würde.
Sie suchte gar nicht erst nach dem Schlüssel in ihrer Tasche, sondern klingelte einfach Sturm. Und noch während sie darauf wartete, dass Marie ihr öffnete, sah sie sich beide bereits in der Sonne auf dem Teerdach sitzen. So wie sie früher als Kinder immer auf das Dach des Hafenschuppens geklettert waren, verbotenerweise natürlich, was aber den Reiz nur umso größer machte, wenn sie dann da oben hockten und ihnen die ganze Welt zu gehören schien.
Vielleicht könnten sie ja den Kaffee auch weglassen, dachte Julia noch, und gleich mit dem Wein anfangen. Eshatte durchaus seine Vorteile, endlich wieder alleine zu wohnen!
Aber wieso kam Marie jetzt nicht zur Tür? Julia klingelte noch mal. Vielleicht war Marie auch nach der langen Bahnfahrt als Erstes unter die Dusche gegangen …
Julia fischte also doch ihren Schlüssel aus der Tasche. Und sie war so überzeugt davon, Marie im Badezimmer zu finden, dass sie dann einen Moment ratlos auf die leere Dusche starrte, bevor sie den Rest der Wohnung nach ihr absuchte.
»Marie?«, rief sie mehrmals. »Bist du schon da?«
Auf dem Küchentisch stand noch ihre Müslischüssel vom Frühstück, aber nirgends gab es irgendeine Spur von Marie. Das Fenster in ihrem Zimmer zum Dach hinaus stand
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