Schwesterlein muss sterben
Arme waren tätowiert. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht, sein T-Shirt hatte dunkle Flecken unter den Armen und auf der Brust.
»Was … macht ihr hier?«, stammelte Julia.
»Kommt überall Rasen hin hier.«
»Schon klar. Es ist nur …«
»Ja?«
»Ihr habt nicht zufällig gerade einen Schlüssel gefunden? Ich glaube, ich hab meinen hier irgendwo verloren.«
»Was für einen Schlüssel?«
»Na ja, einen Schlüssel eben.« Irgendwie wollte sie vermeiden, ihnen zu erzählen, dass es um ihren Wohnungsschlüssel ging.
»Ist weg, was?« Der Langhaarige stützte sich schwer atmend auf seine Spitzhacke. »Blöd so was. Hab auch schon mal einen Schlüssel verloren. Hab sogar das Schloss von der Wohnung austauschen lassen, weißt du ja nie, wer den Schlüssel vielleicht findet …«
Er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern zuckte nur mit den Schultern und nahm die Arbeit mit der Hacke wieder auf. Sein Kumpel machte eine vage Geste und bückte sich wieder zu den losen Steinen vor seinen Füßen.
Als Julia die Treppen wieder nach oben stieg, ärgerte sie sich, dass sie nicht auf die Ladefläche des Lasters geklettert war, um nach dem Schlüssel zu suchen. Aber sie wollteauch nicht noch mal umdrehen und sich endgültig lächerlich machen. Allerdings schmeckte ihr die Vorstellung gar nicht, dass vielleicht tatsächlich einer von den beiden Gärtnern ihren Schlüssel eingesteckt hatte und jetzt auch noch wusste, zu wem er gehörte.
ZWEITES BUCH
»You are hoping that there must be an answer«
(Dance with a Stranger)
JULIA
Der Wein, den sie alleine in der Hitze auf ihrem Dach getrunken hatte, hatte ihr nicht besonders gutgetan. Vielleicht hätte sie es auch nach dem ersten Glas und dem schnell einsetzenden Schwindelgefühl einfach gut sein lassen sollen. Aber sie war wütend, sie hatte sich so auf Maries Besuch gefreut und kam sich im Stich gelassen vor. Tatsächlich hatte sie auch gehofft, Marie von der bescheuerten Aufnahme erzählen zu können, die sie bei ihrer Mutter gehört hatte und die ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.
Irgendwann hatte Julia mehr als die halbe Flasche geleert und war so fertig, dass sie nur noch ins Bett torkeln konnte.
Als sie wieder zu sich kam, dachte sie im ersten Moment, es wäre schon der nächste Tag. Bis ihr auffiel, dass sie mitten in einem Sonnenstrahl lag. Ein Blick auf ihren geliebten Kinderwecker mit der Donald-Duck-Figur sagte ihr, dass es kurz vor neun war, und zwar immer noch abends, ihr Zimmer hatte keine Morgensonne!
Sie checkte kurz ihr Handy, ob sich Marie inzwischen gemeldet hatte. Hatte sie nicht. Julia versuchte noch einmal, sie anzurufen, und diesmal wurde das Gespräch angenommen, allerdings ohne dass Marie sich mit Namen gemeldet hätte.
»Marie?«, rief Julia. »Bist du dran? Ich bin’s, Julia, hörmal, ich finde das nicht besonders witzig! Bist du echt beleidigt, weil ich …«
Sie brach mitten im Satz ab, sie hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
»Marie?«, fragte sie noch mal nach. »Kannst du vielleicht wenigstens irgendwas sagen?«
Fast gleichzeitig hörte sie das Knacken, mit dem das Gespräch beendet wurde.
»Du spinnst doch echt!«, rief Julia laut in die leere Wohnung hinein und drückte die Taste für die Wahlwiederholung. Als sich nach dem zweiten Klingeln die Mailbox einschaltete, tippte Julia sich empört an die Stirn. Langsam reichte es, dachte sie. Und: Was glaubte Marie eigentlich, wer sie wäre, dass sie so mit Julia umspringen könnte?
Sie warf noch einmal einen Blick auf die eingegangenen Anrufe, die sie womöglich verpasst hatte. Ihre Mutter hatte sich noch nicht wieder gemeldet. Dafür gab es eine Nachricht von Erik, einem Kommilitonen aus ihrem Uni-Projekt. Ob sie heute Abend in die »Garage«, einen kleinen Club in der Christiesgate, kommen würde, um elf sollte irgendeine Band spielen, die sie sich unbedingt mit ihm zusammen anhören müsste.
Erik nervte sie schon seit einiger Zeit damit, dass er immer wieder versuchte, sich mit ihr zu verabreden. Und jedes Mal brachte er irgendein anderes Argument an, das sie überzeugen sollte – wie jetzt diese Band, von der sie noch nie gehört hatte. Aber um fair zu bleiben, musste Julia zugeben, dass es auch nichts geändert hätte, wenn er einfach damit rausgerückt wäre, dass er nichts weiter wollte, als sie abzuschleppen. Nur dass sie sich nie im Leben von einem Typen abschleppen lassen würde, der immer aussah, alswäre »Sonne« ein Fremdwort für
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