Schwesterlein muss sterben
sperrangelweit offen, Julia war sich nicht sicher, ob sie einfach vergessen hatte, es zu schließen. Möglich war es, sie war morgens nicht unbedingt das, was man normalerweise als »fit« bezeichnete.
Sie ging noch einmal durch die Wohnung, sie stieg sogar auf das Dach hinaus, aber es gab auch nicht das kleinste Anzeichen, dass Marie überhaupt da gewesen war. Selbst wenn sie schnell noch mal weggegangen war, um bei dem schönen Wetter vielleicht eine kleine Erinnerungstour durch ihre alte Heimatstadt einzuschieben, hätte doch wenigstens ihre Reisetasche irgendwo stehen müssen.
Sie nahm ihr Handy und rief Maries Nummer auf. Aber es meldete sich niemand.
Fast im selben Moment entstand die leise Ahnung in ihrem Kopf, dass es vergeblich war, auf Marie zu warten. Sie würde nicht kommen. Je mehr Julia darüber nachdachte, umso klarer wurde das Ganze. Marie war beleidigt, weilJulia sie versetzt hatte. Nicht wirklich versetzt, schon klar, Julia hatte sie ja vorgewarnt, dass sie es wahrscheinlich nicht schaffen würde, sie abzuholen. Aber genau das war es. Für Marie musste das den Eindruck erweckt haben, dass Julia die Uni wichtiger war, als ihre Freundschaft zu retten. Das passte zu ihr! Jeder andere hätte da keine große Sache draus gemacht, aber Marie war immer schon eine kleine Drama-Queen gewesen, und dementsprechend bezog sie wieder mal alles nur auf sich, so nach dem Motto: Wenn Julia noch nicht mal zwei Stunden Uni für mich sausen lassen will, kann es ihr auch nicht besonders ernst mit uns sein. Dann lassen wir es eben, ich bin fast ein Jahr lang ohne sie klargekommen, ich brauche sie nicht, wenn sie so wenig Interesse hat, geht es auch ohne sie.
Wahrscheinlich war sie gar nicht erst losgefahren, sondern saß beleidigt immer noch in Oslo und fand, dass Julia es nicht anders verdient hatte. Und Julia würde sie anrufen können, sooft sie wollte, und hätte bestenfalls irgendwann die Mailbox dran.
Aber Julia konnte auch beleidigt sein! Dann eben nicht, liebe Marie, dachte sie. Sie schob die eine Flasche in den Kühlschrank und suchte nach dem Korkenzieher, um die andere zu öffnen. Dann würde sie sich eben alleine betrinken, auch wenn es nicht das war, was sie vorgehabt hatte. Aber manchmal musste man auch umdisponieren können. Und Julia war fest gewillt, sich den Tag nicht von einer zickigen Exfreundin versauen zu lassen.
Nach dem ersten Glas fiel ihr dann allerdings wieder der Zweitschlüssel ein, den sie für Marie draußen im Hof versteckt hatte, falls die Haustür abgeschlossen sein sollte.
»Geh rechts ums Haus rum«, hatte sie zu Marie gesagt.»Da gibt es so eine Art überdachten Sitzplatz, den die Leute aus der Parterrewohnung manchmal zum Grillen benutzen. Ich schiebe den Schlüssel einfach unter die Regentonne, die da an der Hauswand steht.«
Der Boden im Hof war gepflastert, zwischen den Steinen gab es überall irgendwelche Ritzen und Vertiefungen, das Versteck unter der Regentonne erschien ihr naheliegend. An der Tonne, die bis obenhin mit Wasser gefüllt war, würde sich so schnell niemand zu schaffen machen.
Aber als sie jetzt in den Hof kam, hörte sie laute Stimmen und den Lärm von Hammerschlägen und splitterndem Holz. Gleichzeitig fiel ihr wieder ein, dass vorhin irgendein Laster in der Durchfahrt zum Hof geparkt hatte. Sie hatte sich noch darüber geärgert, dass der Motor lief, obwohl niemand zu sehen war.
Jetzt stand der Laster rückwärts neben dem Anbau, auf dem Julia ganz oben ihre heimliche Dachterrasse hatte. Und neben dem unten eigentlich der überdachte Sitzplatz hätte sein sollen. Nur war da kein Sitzplatz mehr! Die Balken und Bretter lagen bereits gesplittert und zerschlagen auf der Ladefläche des Lasters, genauso wie die Stühle und die alte Hollywoodschaukel. Auch die Regentonne konnte sie in dem Sperrmüllhaufen ausmachen.
Ein langhaariger Typ mit einer Spitzhacke fing eben an, die Pflastersteine aus dem Boden zu brechen, die sein Kumpel dann einen nach dem anderen auf den Laster warf.
Julia machte einen langen Schritt über die Wasserpfütze aus der Regentonne und starrte auf die aufgewühlte Erde vor sich.
»Ist was?«, knurrte der Typ mit der Spitzhacke zwischenzwei weit ausholenden Schlägen, ohne auch nur hochzusehen.
Sein Kumpel dagegen musterte sie interessiert und grinste anzüglich, als sein Blick über ihren Ausschnitt streifte. Seine rechte Augenbraue war gepierct, und am Hals hatte er eine Tätowierung, irgendein verschlungenes Muster, auch seine
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