Schwesterlein muss sterben
hat! Und jetzt ist er auch verschwunden. Und ist gerade dabei, sie irgendwo zu zerstückeln, und Sie suchen ihn, aber wahrscheinlich ist es sowieso schon zu spät, weil sie schon tot ist! Und natürlich, jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir auch wieder ein, er war zwar immer freundlich zu mir, aber sein Blick war irgendwie … stechend. So, alswürde irgendwas nicht stimmen mit ihm! Ich habe es mir doch gleich gedacht, dass das komisch ist, dass er mich … O Gott, ich darf gar nicht daran denken, und ich war so oft allein hier mit ihm im Laden!«
»Warte«, versuchte Merette, den Wortschwall zu unterbrechen. »Jetzt beruhig dich erst mal wieder.« Sie griff über den Tresen hinweg nach den Schultern der jungen Frau. »Es ist alles okay, hörst du? Das Leben ist nicht so wie in deinen Kriminalromanen. Ich habe wirklich nur nach ihm gefragt, weil ich ihn dringend sprechen muss, aber es hat überhaupt nichts mit dem vermissten Mädchen zu tun.«
Merette konnte deutlich spüren, dass die junge Frau alles andere als überzeugt war, aber sie hatte keine Ahnung, was sie sonst noch sagen sollte. Sie kritzelte ihre Handynummer auf einen Zettel.
»Tu mir einfach den Gefallen und ruf mich an, wenn er hier wieder auftauchen sollte. Ist das okay für dich?«
Die Verkäuferin nickte wieder. Merette fürchtete, dass sie die nächsten Tage bei jedem Klingeln der Ladenglocke in heller Panik zusammenzucken würde.
»Du kannst mich auch so anrufen«, setzte sie entschuldigend hinzu. »Ich wollte dir keine Angst einjagen.«
Sie griff noch einmal nach der Hand der Verkäuferin und drückte sie. Nachdem sie in den Volvo gestiegen war, zündete sie sich eine Zigarette an und lehnte sich für einen Moment mit geschlossenen Augen zurück, dann startete sie den Motor und fuhr los.
Ein Spaziergang im Nordnes-Park würde ihr vielleicht guttun, dachte sie. Sie mochte den Platz, an dem sich die Stadt wie ein schmaler Finger in den Fjord hineinschob.Der Blick aufs Meer und die Kreuzfahrtschiffe würde ihr vielleicht auch heute dabei helfen, ihre Gedanken zu sortieren, die immer wieder um die gleichen Fragen kreisten: Was, wenn die Verkäuferin zufällig genau ins Schwarze getippt hatte? Konnte es wirklich sein, dass Marie entführt worden war? Und dass Aksel der Täter war? Aber warum? Gab es irgendeine Verbindung zwischen den beiden, von der sie nichts ahnte? Konnte vielleicht Julia etwas wissen, was sie auf die richtige Spur bringen würde …
»Unwahrscheinlich«, sagte Merette laut. »Sie haben ja seit fast einem Jahr nicht miteinander geredet!«
Sie überholte einen Kombi mit einem ausländischen Kennzeichen und schnitt ihm gleich darauf rücksichtslos den Weg ab, weil sie am Ende des Nordnesveien eine freie Parklücke entdeckt hatte.
Mit eiligen Schritten lief sie durch die Anlage bis zur Uferpromenade, als gäbe es irgendein Ziel, das sie dringend erreichen musste. Ein paar Möwen waren eifrig damit beschäftigt, den überfüllten Papierkorb zwischen den Aussichtsbänken nach Essensresten zu durchsuchen. Als Merette näher kam, flogen sie ärgerlich kreischend auf und ließen sich vom Wind davontragen.
Merette bemerkte erst jetzt, dass es sich merklich abgekühlt hatte. Der Wind kam direkt vom Meer, die Wasseroberfläche war gekräuselt, vereinzelt klatschten kleine Wellen auf den Kies an der Böschung. Auf jeden Fall war es Merette zu kühl und zu ungemütlich, um sich auf eine der Bänke zu setzen, und auch der Spaziergang auf der Promenade, die um die Halbinsel herumführte, erschien ihr plötzlich wenig verlockend. Aus einer Eingebung heraus lief sie zum Aquarium hinüber.
Früher war sie oft mit Julia hier gewesen, sie erinnerte sich auch noch an einen Kindergeburtstag, bei dem sie und Jan-Ole eine Horde kreischender Erstklässler beaufsichtigt hatten, die von einem Becken zum nächsten rannten und versuchten, die verschiedenen Meeresbewohner durch hartnäckiges Klopfen an den Glasscheiben zu irgendeiner Reaktion zu verlocken – wenn sie nicht gerade dringend pinkeln mussten oder hingefallen waren und weinend nach ihrer Mama verlangten.
Plötzlich wollte Merette nichts lieber, als in das grünliche Dämmerlicht des Aquariums einzutauchen. Eine Liedzeile aus einem Beatles-Song schoss ihr durch den Kopf, »I’d like to be, under the sea, in an octopus’ garden in the shade«. Vor sich hin summend löste sie ihre Eintrittskarte und stand dann fasziniert vor dem Becken mit den gewaltigen Stören, die ungerührt ihre
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