Schwesterlein muss sterben
greifen. Er trat einen Schritt auf sie zu, seine Augen waren wie Stecknadelköpfe. Unwillkürlich wich Merette einen Schritt zurück.
Aber dann stolperte er direkt vor ihr, als könnte sein verletzter Fuß das Gewicht nicht tragen. Er versuchte noch, sich an der Glasscheibe des Beckens abzustützen, gleich darauf sackte er zu Boden und umklammerte wimmernd seinen Fuß.
»Es tut so scheißweh«, konnte Merette ihn mit Mühe verstehen, »und mir ist schlecht.«
Merette sah, dass der Fuß erneut blutete, Aksels Haare waren schweißnass und klebten an seiner Stirn.
»Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
»Nein, keinen Krankenwagen. Fahr du mich in die Klinik, bitte. Bis zu deinem Auto schaffe ich es, wenn du mir hilfst.«
Merette zögerte. Woher weiß er überhaupt, dass ich mit dem Auto hier bin, dachte sie, und wo ich geparkt habe? Sie war sich nicht sicher, ob sie das Risiko eingehen wollte, mit ihm allein im Auto zu sein. Sie wusste ja noch nicht mal, ob er nicht vielleicht wieder nur eine Show inszenierte. Aber das Blut, das seinen Turnschuh durchtränkte, war echt. Genauso wie die deutlichen Anzeichen für einen drohenden Kreislaufzusammenbruch. Und sie wollte auf keinen Fall, dass er die Chance hatte, ihr erneut zu entwischen. Sie war noch nicht fertig mit ihm, und sie musste das hier irgendwie zu Ende bringen. Außerdem würde man sie im Rettungswagen vielleicht gar nicht mitfahren lassen, sie war schließlich nicht verwandt mit Aksel …
Als er versuchte, sich an der Wand hochzuziehen, fasstesie ihn unter der Achsel und half ihm auf die Beine. Dann legte sie den Arm um seine Hüfte, um ihn zu stützen. Nur mit Mühe schafften sie die Stufen hinauf in die Eingangshalle, die Frau an der Kasse blickte nervös hinter ihnen her, als sie das Aquarium verließen. Aksel stützte sich jetzt schwer auf ihre Schulter, er humpelte stark und war bemüht, den verletzten Fuß möglichst nicht aufzusetzen. Sein Körper strömte einen stechenden Geruch nach Schweiß aus und … Angst, dachte Merette. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er weinte. Sie war für einen Moment irritiert, als sie merkte, dass sie kein Mitleid mit ihm hatte.
»Versuch nicht, mich auszutricksen«, sagte er leise, als sie den Volvo startete. »Ich weiß, wo das Krankenhaus ist.«
Merette gab keine Antwort. Auf der Fahrt durch die Innenstadt redeten sie kein Wort mehr miteinander. Trotzdem hatte Merette Mühe, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Kurz vor der Klinik bog sie entgegen der Fahrtrichtung in eine Einbahnstraße ein und ließ es, als sie ihren Fehler bemerkte, einfach darauf ankommen. Sie hatte Glück, dass ihr tatsächlich kein Wagen entgegenkam. Aksel zeigte mit keiner Reaktion, dass er überhaupt etwas bemerkt hatte.
Merette fuhr direkt auf die Krankenwagen-Rampe an der Notaufnahme und ließ den Volvo mit eingeschalteter Warnblinkanlage stehen.
Aksel schien nicht in der Lage zu sein, für sich selbst zu sprechen, also übernahm es Merette, dem herbeieilenden Pfleger das Wenige zu sagen, was sie wusste.
»Schon okay.« Der Pfleger nickte. »Die Aufnahmepapiere machen wir später fertig, erst mal soll sich ein Arzt die Sache ansehen.« Als er Aksel auf eine Trage half und inein Behandlungszimmer schob, hatte Merette ganz kurz den Eindruck, dass die beiden sich kannten. Es war nur ein schneller Blick zwischen ihnen gewesen, ohne dass einer der beiden etwas gesagt hatte, aber Merette war sich fast sicher.
Ein wenig ratlos stand sie auf dem Flur, als eine Krankenschwester vorbeikam, fragte sie nach der Toilette. Sie hatte schon während der Fahrt gemerkt, dass sie pinkeln musste, jetzt war es dringend.
Die Toiletten waren am Ende des Ganges, eine Kabine war verschlossen, Merette hörte, wie sich jemand übergab. Nachdem sie in der Nachbarkabine gepinkelt hatte, klopfte sie vorsichtig an die Tür: »Brauchen Sie vielleicht Hilfe? Soll ich eine Schwester holen?«
»Nein, geht schon wieder, danke.«
Merette wusch sich die Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht, natürlich verwischte sie beim Abtupfen mit dem kratzigen Papierhandtuch ihren Lidschatten. Aber ohnehin kam ihr ihr eigenes Gesicht im Spiegel fremd vor, müde und alt. Unwillig besserte sie ihr Make-up nach, ohne dass sie das Ergebnis wirklich befriedigte.
Sie kam gerade rechtzeitig wieder zurück, um noch den Arzt zu erwischen, bevor er im Behandlungszimmer verschwinden konnte.
»Entschuldigung«, sagte sie, »aber ich müsste ganz kurz mit Ihnen reden. Wenn es
Weitere Kostenlose Bücher