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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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Kreise schwammen. Merettes Blick suchte die Erklärungstafel neben der Scheibe. Mit einer gewissen Zufriedenheit stellte sie fest, dass sie den Inhalt nach wie vor nahezu auswendig konnte: Ausgerechnet der sowjetische Präsident Chruschtschow hatte die Tiere der Stadt Bergen als Geschenk vermacht, vor über dreißig Jahren, das Becken hatte mittlerweile bereits dreimal vergrößert werden müssen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Merette, was um alles in der Welt Chruschtschow bewogen haben mochte, ausgerechnet Fische zu verschenken, die im ausgewachsenen Zustand mehr als drei Meter lang werden konnten und in Freiheit täglich kilometerlange Wanderungen zurücklegten.
    Schräg gegenüber war immer noch das Becken mit dem Steinbeißer. Wahrscheinlich war es schon lange nicht mehr derselbe Fisch, den sie mit Julia bestaunt hatte, aber wieauch früher brauchte sie eine Weile, bis sie das vorsintflutlich anmutende Geschöpf zwischen den Felssteinen auf dem Sandboden entdeckt hatte. Steinbeißer gehörten zu den besonderen Delikatessen, die der Fischmarkt am Torget anbot, Jan-Ole hatte gerne und oft erzählt, dass die Hochseefischer größten Respekt vor diesem besonderen Fisch hatten, dessen Kiefer sich nicht mehr lösen ließen, wenn sie einmal mit der Doppelreihe messerscharfer Zähne zugeschnappt hatten. Keine besonders angenehme Vorstellung, dachte Merette noch, als eine Stimme in ihrem Rücken sie zusammenfahren ließ.
    »Gefährlich, aber als Speisefisch nicht schlecht. Du musst ihn nur unbedingt eine Nacht in Salzwasser einweichen, damit das Fleisch nicht zu trocken wird, und dann in einer dünnen Salzkruste backen und mit neuen Kartoffeln dazu. Mehr brauchst du nicht, und bloß nicht diese bescheuerte Dill-Senf-Sauce, wie die Restaurants auf Bryggen das machen! Ich kann dir das richtige Rezept geben, wenn du willst, ist sozusagen eine Spezialität von mir!«
    Wie in Zeitlupe wandte Merette den Kopf, obwohl sie längst wusste, wer da hinter ihr stand. Ein schneller Blick durch den Raum bestätigte ihre Befürchtung, dass keine anderen Besucher in der Nähe waren – sie waren allein, sie und Aksel.
    Er lehnte mit dem Rücken an der Glasscheibe, hinter der eine Scholle bei dem unablässigen Versuch, sich zu verstecken, graue Sandwolken aufwühlte. Er trug wieder die üblichen Joggingklamotten, allerdings hatte er heute einen verschlissenen Armeeparka über dem Kapuzenshirt, der ihn wie eine Vogelscheuche aussehen ließ. Sein Gesicht war bleich, und er schwitzte stark. Als Merette den blutdurchtränktenTurnschuh an seinem rechten Fuß sah, holte sie scharf Luft.
    Trotz seines eindeutig derangierten Zustandes grinste Aksel wie jemand, der alle Vorteile auf seiner Seite hatte. Und die Verkäuferin hatte recht, dachte Merette, es sind seine Augen, die einen frösteln lassen, wieso ist mir das vorher nie aufgefallen?
    »Überrascht, mich zu sehen?«, fragte Aksel, ohne ihren Blick loszulassen. »Ich bin öfter mal hier und stelle mir dann immer vor, was die niedlichen Fische wohl mit jemandem anstellen, der ertrunken ist. Und du, warum bist du hier? Ich darf doch du sagen, oder? Ist ja eher ein inoffizielles Treffen …«
    »Nein, ich bin nicht wirklich überrascht«, log Merette mit einem Schulterzucken. »Und ich hab dich ohnehin gesucht, weil ich mit dir reden muss.«
    Fast unmerklich veränderte sich seine Haltung, als hätte ihre Antwort ihn für einen Moment aus dem Konzept gebracht. Seine Stimme hatte jetzt einen deutlich aggressiven Unterton.
    »Und du glaubst, weil du mich suchst, stehe ich dann auch plötzlich vor dir? Was soll das sein, irgendeine Art von Gedankenübertragung, oder was?«
    »Vielleicht. Ich weiß nicht, sag du es mir.«
    »Nee, du, ich komme nicht einfach angetanzt, nur weil du das gerne so hättest! Da überschätzt du dich.«
    »Aber du bist hier. Und das ist sicher kein Zufall, also …«
    »Also was?«
    Aksel verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere, als hätte er starke Schmerzen und könnte sich nur mit Mühe aufrecht halten.
    »Was ist mit deinem Fuß?« Merette deutete auf den Turnschuh. »Das sieht nicht gut aus.«
    »Ein kleiner Unfall, sonst nichts. Was willst du von mir? Wenn ich mich richtig erinnere, hast du doch beim letzten Mal irgendwas hinter mir hergerufen, dass du mich nicht noch mal sehen willst. Also, woher kommt dann jetzt plötzlich der Sinneswandel?«
    Merette blickte sich noch einmal um. Irgendwo auf der Treppe zum Eingang hörte sie jemanden

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