Schwesterlein muss sterben
das kann ich auch alleine.«
»Wie jetzt, was?«
»Denk mal drüber nach, vielleicht kommst du ja drauf.«
Julia hatte die Verbindung unterbrochen, ohne sich zu verabschieden. Für einen Moment war sie mehr verärgert über die plumpen Anmachversuche gewesen als irritiert über die Informationen, die sie nicht einordnen konnte. Erst dann kam die Wut, dass Mikke ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte. Irgendetwas war faul mit ihm, auch wenn sie es sich noch immer nicht so ganz eingestehen wollte …
»Wenn du deinen Kaffeebecher noch ein bisschen schräger hältst«, hörte sie Eriks Stimme wie aus weiter Ferne,»dann plörrst du dir die Brühe gleich über die Füße.« Er nahm ihr vorsichtig den Becher aus der Hand. »Mann, Julia, du bist ja echt voll weggetreten, was ist los?«
»Hast du mal eine Zigarette für mich?«, fragte Julia anstelle irgendeiner Antwort. »Ich muss mal einen Moment nach draußen.«
»Ich dachte, du rauchst nicht …«
»Tu ich auch nicht.«
»Na dann«, sagte Erik und hielt ihr ein zerdrücktes Päckchen Gauloises und sein Feuerzeug hin. Julia reagierte nicht, sondern starrte zu dem großen Rolltor hinüber, das halb geöffnet war, damit sie genügend Luft in dem nach frischer Farbe und Klebstoff stinkenden Raum hatten. Julia konnte die Figur, die da im Eingang stand, nur als Schattenriss vor dem gleißenden Sonnenlicht draußen erkennen, aber sie war sich sicher, dass sie sich nicht irrte.
Jetzt hatten auch die anderen Kommilitonen den Besucher bemerkt, Julia hörte, wie sie zu tuscheln anfingen.
Und dann sagte Erik plötzlich: »He, das ist doch dieser Typ, von dem gerade überall Plakate in der Stadt hängen, weil er irgendeine Ausstellung hat. Dieser durchgeknallte Künstler … ich komme gerade nicht drauf, wie er heißt.«
»Jan-Ole.«
Julia machte unwillkürlich einen Schritt zurück, als wollte sie sich hinter Erik verstecken.
»Genau, Jan-Ole Andersen, der mit den toten Rockmusikern. Wieso, kennst du ihn etwa?«
Im gleichen Moment dröhnte Jan-Oles Stimme durch die Halle, kratzig von zu viel Zigaretten und Alkohol, aber bis in den letzten Winkel zu verstehen. Als wäre er es gewohnt,ungebeten irgendwo reinzuplatzen und sich Gehör zu verschaffen.
»Entschuldigung, Leute, ich wollte nicht stören! Aber ich suche Julia Schulman …«
Alle Blicke gingen zu Julia hinüber.
»Mann, du kennst ihn echt!«, flüsterte Erik neben ihr. »Denk dran, ihn gleich einzuspannen, für unsere Aktion, einen Typen wie ihn können wir immer gebrauchen, er hat gerade voll den Namen!«
»Ich bin hier«, sagte Julia leise, ohne sich weiter um Erik zu kümmern. Als sie über die Pappmaché-Wellen hinwegstieg und auf Jan-Ole zuging, hob er grüßend die Hand, machte aber keine Anstalten, ihr entgegenzukommen, als wollte er nicht mehr als nötig in ihre Arbeitsatmosphäre eindringen. Julia war ihm fast dankbar dafür, gleichzeitig spürte sie, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Wenn Jan-Ole hier plötzlich auftauchte und sie suchte, konnte es nur etwas mit Merette zu tun haben! Irgendetwas musste passiert sein …
»Ist was mit Mama?«, stieß sie hervor, kaum dass sie außer Hörweite der anderen war.
»Nein, keine Panik, Merette ist okay.«
»Wirklich?«
Jan-Ole blickte sie forschend an. »Wieso? Machst du dir Sorgen um sie?«
»Meine Sache, oder?«, blaffte Julia zurück, merkte aber, wie erleichtert sie war, am liebsten wäre sie Jan-Ole um den Hals gefallen.
Er berührte sie leicht am Arm. »Ich weiß, dass du mich nicht sehen willst, aber lass uns kurz miteinander reden, bitte.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er vor ihr her auf den verbeulten Campingwagen zu, den er offensichtlich immer noch fuhr. Ein amerikanisches Modell, Julia hatte sich schon früher nicht merken können, ob es ein Dodge oder ein Chevrolet war. Früher, als alles noch in Ordnung gewesen war und sie mit dem damals noch chromglänzenden Spritfresser fast jedes Wochenende an die Schärenküste oder in die Berge gefahren waren.
Als Jan-Ole die Schiebetür öffnete und sich auf die Trittstufe setzte, fiel Julia zum ersten Mal auf, dass er alt geworden war. Nach wie vor trug er die langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihm weit über den Rücken hing. Aber die Haare waren mittlerweile grau, und auch die verblichene Jeans und die Lederjacke konnten nicht über die tiefen Falten in seinen Mundwinkeln und die Ringe unter seinen Augen hinwegtäuschen. Alt und müde, dachte Julia. Und wegen
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