Schwesterlein muss sterben
irgendetwas macht er sich mehr Sorgen, als er zeigen will! Er ist ganz bestimmt nicht hier, weil ihn seine stiefväterlichen Gefühle plötzlich übermannt haben und er mich zu seiner Ausstellungseröffnung einladen will – oder was immer er in seinem Leben für so wichtig hält, dass er es mir unbedingt mitteilen will …
»Es geht um Marie«, sagte Jan-Ole, ohne Julia anzublicken. »Deine alte Freundin, die verschwunden ist.«
Sofort spürte Julia wieder das unangenehme Kribbeln in ihrem Rücken. Und einen leichten Schwindel, der alles unwirklich machte, als wäre sie in einem Traum gefangen. Einem Albtraum! Aber bevor sie etwas fragen konnte, hob Jan-Ole die Hand.
»Warte, noch wissen wir gar nichts! Es gibt keine Spurvon ihr, und für den Moment hoffe ich, dass das zumindest bedeutet, dass sie noch am Leben ist. Aber …«
»Was hast du damit zu tun?«, unterbrach ihn Julia jetzt doch. »Ich kapiere nicht …«
»Ich will es dir gerade erklären, Julia. Merette hat mich angerufen, schon letzte Woche, aber da war ich gerade in Dänemark, und sie hat auch versucht, so zu tun, als wäre es nicht weiter wichtig. Gestern haben wir dann noch mal telefoniert, nachdem ich wieder auf meiner Hütte war, und sie hat mir jetzt auch die Geschichte mit Marie erzählt. Ich habe heute Morgen mit den Kollegen in Oslo gesprochen …«
»Wieso Kollegen?«, hakte Julia irritiert ein.
»Exkollegen, aber das spielt keine Rolle, es gibt da immer noch ein paar ganz gute Kontakte, ich war ja schließlich lange genug bei dem Verein, und manchmal …« Er winkte ab. »Sagen wir es mal so, ich habe da eine Art Beraterfunktion, das beschreibt es vielleicht am besten.«
»Soll das jetzt heißen, dass du eigentlich noch immer bei den Bullen bist?«
Jan-Ole überging ihre Frage, indem er nach seinem Tabakspäckchen griff und sich eine Zigarette drehte. Als er sein Zippo aufschnappen ließ, blickte er Julia über die Flamme hinweg an.
»Du weißt in etwa von dem Fall, mit dem Merette gerade zu tun hat? Dieser Soziopath, der sie mehr oder weniger konkret bedroht hat?«
Julia nickte.
»Also, kurz zusammengefasst«, machte Jan-Ole weiter, »der Typ hat sich abgesetzt, und zwar unter höchst merkwürdigen Umständen, jedenfalls ist er weder zu Hause,noch geht er an sein Handy, geschweige denn, dass er sich bei seinem Betreuer vom Gericht melden würde …«
»Und was soll das jetzt alles mit Marie zu tun haben?«
»Kommt ja noch.«
Jan-Ole trat die Kippe auf dem Pflaster aus, obwohl er erst zwei oder drei Züge geraucht hatte. Der Blick, mit dem er Julia ansah, erinnerte sie an die wenigen Situationen, in denen sie als Kind vergeblich versucht hatte, ihm irgendeine Lüge aufzutischen.
»Erinnerst du dich an die Geschichte mit Marie, als ihr im letzten Sommer zusammen in Frankreich wart? Merette hat erzählt, dass ihr Streit wegen einem Typen hattet, den Marie da kennengelernt hat?«
»Ja, natürlich erinnere ich mich. Das war ja der Grund, weshalb Marie und ich dann nicht mehr miteinander geredet haben. Wegen dem Quatsch ist unsere Freundschaft kaputtgegangen!«
»Hast du den Typen jemals kennengelernt? Oder zumindest mal gesehen?«
»Carlos?«
Jan-Ole zuckte mit der Schulter, als wäre der Name vollkommen egal.
»Carlos, ja. Der Typ jedenfalls, mit dem deine Freundin da was hatte.«
»Nein, nie.«
»Du weißt also auch nicht, wie er ausgesehen hat?«
»Keine Ahnung. Nur dass Marie hin und weg von ihm war, als wäre sie völlig durchgeknallt.«
»Aber du wusstest, dass er Norweger ist und aus Oslo kam? Ich meine, sie muss dir doch irgendwas erzählt haben …«
Julia merkte, wie sarkastisch sie klang, kaum dass sie sich an ihre letzte Szene mit Marie erinnerte. »Ganz, ganz reiche Eltern«, gab sie Maries Beschreibung von damals mit deren Worten wieder, »und überhaupt: Sie haben ein Ferienhaus hier, voll der Luxus, mit einer Fensterfront direkt aufs Meer raus, und Swimmingpool mit Unterwasserbeleuchtung! Und jede Nacht Party! Echt cool! Nicht so ein Billigscheiß wie auf dem Campingplatz hier, wo du ständig aufpassen musst, dass du nicht aus Versehen im falschen Zelt landest. Aber sorry, Julia, ich kann dich da echt nicht mit hinnehmen, das musst du verstehen, der Carlos und ich wollen einfach nur ein bisschen Zeit für uns ganz alleine haben …«
Ein kurzes Grinsen huschte über Jan-Oles Gesicht, als würde er Julias schauspielerischer Leistung durchaus Beifall zollen. Dann wurde er wieder ernst.
»Und daraufhin
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