Schwesterlein muss sterben
ist seit Monaten an jemand anderen vermietet. Es gab auch nie einen Nachsendeantrag bei der Post, nichts. Und wohin Carlos verschwunden ist, weiß keiner. Mit richtigem Namen heißt er übrigens Karl, Karl Rasmussen, mehr oder weniger reiche Eltern gibt es auch, und sie leben tatsächlich in Frankreich, das stimmt alles, aber sie haben keine Ahnung, was ihr Sohn eigentlich macht, und es scheint sie auch nicht weiter zu interessieren. Sie überweisen ihm einen monatlichen Geldbetrag, und das war’s. Das letzte Mal gesehen haben sie ihn, als er nach Frankreich gekommen ist, um ihr Haus einzuhüten, weil sie auf irgendeine längere Reise nach Asien gegangen sind. Der Zeitpunkt stimmt mit eurem Urlaub überein.«
Julia spürte, wie ihr wieder schwindlig wurde. Sie setzte sich neben Jan-Ole auf die Trittstufe und starrte auf die Werfthalle. Leise sagte sie: »Er bekommt Geld auf sein Konto überwiesen. Dann muss doch rauszukriegen sein, wohin. Also ich meine, in welcher Stadt er das Geld abhebt.«
»Sehr gut«, stimmte Jan-Ole ihr zu. »Vollkommen richtig. Du denkst fast schon wie eine Polizistin.« Er wollte nach ihrem Arm greifen, zog die Hand aber wieder zurück und schob sie in die Tasche seiner Lederjacke. »Wir hatten die gleiche Idee und haben das überprüft. Alle Kontobewegungenin den letzten Monaten sind von immer demselben Geldautomaten gemacht worden, und zwar am Busbahnhof, hier in Bergen.«
Julia konnte nur noch flüstern. »Das heißt, er ist also …«
»Er ist offensichtlich in Bergen«, bestätigte Jan-Ole. »Aber wir haben keine Adresse, nichts. Umgemeldet hat er sich jedenfalls nicht. Und entweder lebt er hier unter falschem Namen, oder er ist bei jemandem untergekrochen, den er kennt. Solange er nicht auffällt oder ganz offiziell angestellt ist, kommt er damit durch. Die Versicherungen werden vom Konto abgebucht, da interessiert es niemanden, wo er wohnt. Wenn du es wirklich darauf anlegst, kannst du nahezu völlig von der Bildfläche verschwinden. Für eine gewisse Zeit jedenfalls.«
Julia schluckte heftig. Die Gedanken in ihrem Kopf überstürzten sich. Was hatte der Typ im Tonstudio behauptet? Dass Mikke bei seinem Vorstellungsgespräch eine Adresse in Oslo angegeben hatte. Und dass sie keine neue Adresse von ihm hatten. Dass keiner wusste, wo er in Bergen wohnte. Dass überhaupt niemand wirklich etwas über ihn wusste, sie selber am allerwenigsten. Außer dass er ihr bislang jede Menge Lügen aufgetischt hatte.
»Merette hat mir erzählt, dass du einen neuen Freund hast«, wechselte Jan-Ole das Thema, als könnte er Gedanken lesen. »Und wenn ich sie richtig verstanden habe, hält sie ihn zumindest für … fragwürdig?«
»Ich glaube, das hat eher etwas mit dem bescheuerten Fall zu tun, der ihr gerade Sorgen macht. Sie hatte irgendwie Angst, weil ihr Patient so komische Andeutungen gemacht hat, als ob er wüsste, dass sie eine Tochter hat und … Sie hat Angst gehabt, dass er und Mikke vielleicht …«
»Mikke?«
»Mein Freund. Oder auch schon nicht mehr. Es ist eigentlich schon wieder vorbei. Glaube ich jedenfalls.«
Immer noch zögerte Julia, Jan-Ole von den merkwürdigen Übereinstimmungen zu erzählen, die sie gerade so durcheinanderbrachten, dass sie das Gefühl hatte, jeden Boden unter den Füßen zu verlieren.
Jan-Ole hatte ihre Reaktion beobachtet, hakte aber nicht nach. Stattdessen sagte er ganz ruhig: »Noch mal der Reihe nach. Marie schießt also einen Typen ab, der nicht lockerlässt. Es kommt zu der Anzeige, dann zum Gerichtsverfahren, danach verschwindet der Typ spurlos. Oder eben nicht ganz spurlos. Wir wissen, dass er sich nach Bergen abgesetzt hat. Und jetzt kommt Marie nach Bergen, um dich zu besuchen, und …« Jan-Ole breitete resigniert die Hände aus. »Kann es sein, dass Marie diesen Carlos womöglich schon vorher kannte, also vor eurem Urlaub? Aus irgendeinem Zusammenhang in Oslo, von einer Party vielleicht?«
»Nein, ganz sicher nicht, das hätte sie gesagt.«
»Und umgekehrt, dass er Marie in Oslo schon mal gesehen hatte? Oder dich? Ich nehme an, ihr wart doch öfter zusammen weg. Worauf ich hinauswill, ist die Frage, ob er wissen konnte, dass du inzwischen wieder in Bergen bist? Oder, zu Ende gedacht, ob er irgendwie mitgekriegt haben könnte, dass Marie dich besuchen wollte? Vielleicht haben Marie und er einen gemeinsamen Bekannten, ohne dass Marie das ahnt, und wenn wir mal davon ausgehen, dass er sich immer noch an Marie rächen wollte, dann hat er
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