Schwesterlein muss sterben
selbst wenn sein angebliches Geständnis nur erfunden war, hat er dich im Sack. Julia ist sozusagen seine Trumpfkarte, mit der er dir seine Überlegenheit beweisen kann.«
Merette merkte, dass sie unwillkürlich die Papierserviette vor sich in kleine Schnipsel zerlegt hatte. Ihre Hände zitterten.
»Und wie passt da jetzt Marie in deine Theorie?«
Jan-Ole legte kurz die Hand auf ihre und drückte sie. Dann nahm er die obere Kaffeetasse ab und stellte sie zurück auf das Tischtuch.
»Das Szenario ist das gleiche wie in Theorie eins, nur mit anderen Vorzeichen. Aksel hat sich Julias Adresse besorgt. Er lauert ihr schließlich im Treppenhaus vor ihrer Wohnungstür auf. Aber dann erscheint nicht Julia, sondern Marie, die zu Besuch kommt. Er muss denken, er spinnt! Er weiß nichts von Julia und Marie, er hat Julia ja auch in Frankreich gar nicht gesehen, er kann auch nicht wissen, dass Maries damalige Freundin inzwischen in Bergen lebt. Aber er reagiert, ohne lange nachzudenken – bingo! Er schnappt sich Marie, mit der er ja ohnehin noch eine Rechnung offen hat, und das war’s.«
Merette schüttelte verunsichert den Kopf.
»Okay«, sagte Jan-Ole. »Zwei Dinge sprechen dafür, dass es tatsächlich so gewesen sein könnte. Erstens, die Geschichte der Nachbarin, die ja ganz deutlich gesehen haben will, wie ein Typ, der durchaus Aksel sein könnte, mit einer jungen Frau das Haus verlassen hat. Die Beschreibung der jungen Frau könnte auf Marie passen, nur dass sie nicht betrunken war, sondern er sie vielleicht mit irgendetwas betäubt hatte. Nach Aussage der Nachbarin hat er sie ja mehr oder weniger getragen, das würde also passen. Und wenn das Ganze von ihm als Überfall auf Julia geplant war, wird er auch entsprechend vorbereitet gewesen sein.«
»Und zweitens?«, fragte Merette, während sich ihr Magen zusammenzog.
»Zweitens wäre da die Frage, warum Aksel, wenn er nicht Carlos ist, sich dann Marie als Opfer genommen hat!Das würde keinen Sinn ergeben, Aksel war hinter Julia her, Marie kannte er nicht, von ihr wollte er nichts. Sie interessierte ihn nicht, er konnte sie nicht gebrauchen, sein Plan wäre also nicht aufgegangen. Und damit wäre es nur logisch gewesen, wenn er einfach wieder gegangen wäre und auf die nächste Gelegenheit gewartet hätte, um eben Julia zu erwischen.«
Merette holte tief Luft, ihr war schlecht, vor ihren Augen flimmerte es. Aber im nächsten Moment glaubte sie, die Schwachstelle in der Theorie gefunden zu haben.
»Carlos ist erst nach Bergen gekommen, nachdem er in Oslo gewesen war. Aber Aksel war nie in Oslo! Er hat die Ausbildung im Sundfjord gemacht und …«
»Ist das sicher?«, unterbrach Jan-Ole sie. »Du hast recht, aber er müsste nicht unbedingt lange in Oslo gewesen sein.« Er überlegte. »Es würde schon reichen, wenn er nach seiner Kochlehre nach Oslo gegangen ist und dann im Sommer in Frankreich war und Marie kennengelernt hat. Dann kam die gerichtliche Auflage, sich Marie nicht mehr zu nähern. Er ist nach Bergen und hat es hier aber nicht auf die Reihe gekriegt, es wird ihm ein Betreuer zugeteilt, den Rest kennen wir. Wir müssen also nur rauskriegen …«
»Aber Aksels Adresse ist bekannt, ich war selber schon da. Während du sagst, dass dieser Carlos nicht aufzuspüren ist. Das passt doch nicht! Außerdem hast du erzählt, die Polizei hätte mit den Eltern gesprochen – Aksel hat aber keine Eltern, weder in Frankreich noch sonst wo. Und er heißt auch nicht Rasmussen, ich meine, zumindest den Namen werden sie ja wohl überprüft haben!«
»Es sei denn … wie hießen Aksels Pflegeeltern mit Nachnamen? Weißt du das?«
»Keine Ahnung. Das müsste in den Akten stehen, aber ich erinnere mich nicht. Ich habe die Akte zu Hause …«
»Wo sind die Pflegeeltern hingegangen, nachdem ihre Tochter ertrunken war? Vielleicht zufällig nach Frankreich? – Nein, warte, schon okay. Es passt nicht. Und trotzdem …«
Er zog sein Handy aus der Lederjacke und stand auf. »Ich lasse Aksel jetzt zur Fahndung ausschreiben. Es reicht mir. Irgendwas ist hier verdammt faul. Und hinzu kommt auch noch, dass dieser Betreuer sich nicht mehr meldet. Nachdem er erst angekündigt hat, irgendetwas Neues zu haben, ist er plötzlich auch verschwunden? Das ist mir dann doch ein bisschen zu viel Zufall. Also setzen wir jetzt mal den ganzen Apparat in Gang, auch wenn wir uns auf dünnem Eis bewegen, aber mir fällt nichts anderes mehr ein. Wir drehen uns im Kreis und übersehen irgendwas,
Weitere Kostenlose Bücher