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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Augenblick stand meine Schwester in der Tür. Sie hörte die Worte und drehte sich auf dem Absatz um, ging eifersüchtig aufschnaubend und ungetröstet zurück in ihr Zimmer.
    Maries Abneigung wuchs. Wahrscheinlich wollte sie mich aus dem Weg räumen, weghaben, ermorden wie einst schon Mutter, indem sie die Chemie durch subtile Gerüchte störte. Sie behauptete Vater gegenüber, dass ich sie gegen ihn aufhetzen würde, sie davor warnen, mit ihm allein zu sein, von ihm missbraucht zu werden. Vater war erbost, doch er wurde zunehmend misstrauischer mir gegenüber. Seine Chance, den Töchtern eine sexuell gesunde Familie zu geben, suchte er in der Jagd auf Frauen.
    Mama war dein erstes, Renate dein zweites Wort, und bald wird es dein letztes sein, liebe Marie. Das Gehör junger Menschen reagiert empfindlich auf hohe Töne. Und als der Ruf nach mir, Renate, durchs Haus gellte, stach mir der Name bis in die Hirnrinde. Marie tischte Vater gemeine Lügen auf. Wärme und Liebe verschmolzen in seiner Sprache zu Schimpfworten für mich. Bastard. Teufelskind. Hure. Er hatte mir weder das Sprechen noch das Laufen noch das Schwimmen beigebracht, geschweige denn Marie. Er hätte Dankbarkeit und Verständnis für meine Erziehungsmaßnahmen und Freizeitbedürfnisse zeigen können, um mich altersgemäß heranwachsen zu lassen. Er hätte Marie Aufklärungsunterricht geben können, anstatt ihren sexuellen Phantasien zu glauben. Er war faul und dumm und beschimpfte mich nun als Verderberin Maries, weil sie ihn mit Vorwürfen der Inzucht malträtierte. Wie kam sie überhaupt auf derartige Ideen?
    Ich hatte Marie beim Masturbieren mit einem Grashalm erwischt. Sie hockte auf der Wiese und führte sich den Grashalm ein. Natürlich hatte sie keine Ahnung von den Gefahren. Nachdem ich sie über Tollwut und Pestizide aufgeklärt hatte, erklärte ich ihr auch die Funktion eines Präservativs anhand einer Banane, und die Funktion ihres weiblichen anhand der Banane als Ersatz für das gegengeschlechtliche Genital.
    Während der Sommersaison arbeitete Vater täglich früh bis spät, winters ruhte er sich aus und hatte Zeit für Maries Geschichten. Ich entfremdete mich der Welt in unserer Eisküche. Marie erzählte zwischendurch herum, dass ich sie „unten“ beinahe erstickt hätte. Sie verschrie mich bei Vater.
    Eine Sprache der Liebe im erwachsenen Alter nachzulernen, das versuchte ich, seit ich erkannt hatte, dass ich keine Liebesfloskel über die Lippen brachte, ohne mich als ordinäre Schauspielerin zu empfinden. Meine unstillbare Sehnsucht nach Unschuld mochte daher rühren, dass ich immer eine Minderheit in meiner Familie darstellte. Ich spürte Marie nach, als könnte nur sie mich aus der Sprachkluft befreien, wenn sie die mit dem Vater getauschten Sätze auch mir sagte. Ich wollte sie verschlingen, um ganz zu werden. Mal aus Liebe, mal aus Hass. Beides ist Bemächtigung. Marie war nicht begabter als ich, sie hatte es bloß leichter. Sie lernte zügig, und da sie dank meiner Unterstützung ein ordentlicher Mensch war und geschickt, war sie auch sehr beliebt bei Lehrern.
    Als Rache schneiderte ich meinen alten blauen Pyjama zu einem Overall um, nähte ein Eislauftrikot für Marie draus. Eislaufen war ihre Leidenschaft und auch meine. Die Sprache des Tanzes ist raumgreifend und den Körper als Ort der Sinne befestigend. Wenn ich mich dem Fahrtwind hingab und das Röckchen meine Taille umflatterte, ritzte ich die Spur der eleganten Pirouetten ein und löste mich in einer rückwärtsgefahrenen Schwalbe auf, bevor Marie in Kadettensprüngen über die Fläche setzte und zum Abschluss meiner Küren in die Hocke ging, ein Bein zum Kanonenrohr ausstreckend. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel um. Der verwaschene Stoff des Trikots der am Boden liegenden Tänzerin unterstrich die Rolle der Pechmarie. Ich bremste mit der Außenkante der frisch geschliffenen Kufe, verharrte dann auf den Zacken, um den Applaus zu ernten. Ich war wirklich gut, königlich aufrecht hielt ich mich in der Achse. Eine Augenweide.
    Marie wartete am Ufer. Sie klopfte den Schnee ab. Die Lautsprecher an den Lichtmasten rund um den Eislaufplatz plärrten schon die nächste Nummer. Das Plärren kündigte die Pechmarie an. Meine Schwester tanzte zu einer rostig anmutenden, von mir ausgesuchten Musik. Ein volksdummer Schlager. Marie holte Schwung und unweigerlich rutschte sie in meine Spur, aus der sie nicht mehr herauskam. Marie zauderte. Das Publikum gab mitleidiges Raunen von

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