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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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nieste, schnäuzte sich. Sein Schnauzbart stand struppig ab, und plötzlich schnitt er eine Grimasse, um die Oberlippe zu bewegen und die Barthaare zu entwirren. Sein Gebiss leuchtete und leichter Schauer rieselte über meinen Rücken hinab, weil ich seine Zähne meine Wirbelsäule hinauf bis in den Nacken knabbern spürte. Ein Stich verengte die Pupille und fasste ihn streng ins Auge. Die Intensität meines Blicks schien Paul zu treffen, er drehte sich blitzartig um, fiel im Tempo zurück, wurde dann gleich wieder schneller, als versuchte er mich abzuhängen. Er drängte sich vor, brachte die Trauerfolge durcheinander, preschte in die erste Reihe und flüsterte Marie etwas ins Ohr. Marie drehte sich um, als Paul sie mit einer Berührung an der Schulter anherrschte weiterzugehen. Dann legte er den Arm um sie. Ich war mir sicher, dass er mit Marie über mich gesprochen hatte. Na warte, dachte ich, dafür wirst du bezahlen, nie wieder soll ein Wort über deine Lippen kommen. Ich tauchte ab, sie konnte mich nicht sehen. Dafür packte mich das Grauen, weil ich mir Paul rot und zerfetzt als ein Unfallopfer vorstellte. Blutstropfen tupften schon den Boden, der sich unter meinen Füßen aufzulösen begann. Ich hielt mich an der Laterne fest und spürte den Sand unter den Füßen, wie er das Blut aufsog und die Spuren meiner Wahrnehmung tilgte.
    In der Taverne wurde Brot getoastet und zu Stifado gereicht. Der Toaster tickte. Die gegrillten Scheiben schossen hoch und anstatt sie weiterzureichen, kramte Paul in seinem Sakko nach dem Autoschlüssel. Ein Tontopf wurde aus der Küche gebracht. Marie beugte sich über den Topf und legte den Kopf schief. „Paul, kommst du?“, rief sie. Weiße Oktopusstreifen in schwarzer Sauce schöpfte die griechische Witwe meines Stiefvaters in weiße Teller und Marie und Paul verteilten die Teller.
    Paul war vielleicht gar nicht Paul, nur derselbe Typ, was mich erst recht anlockte. Maries Männer gefielen mir, wir hatten denselben Geschmack, ein Indiz für die große Nähe zwischen uns. Falls Paul Paul war, hatte er sich verändert, der Schnurrbart, die Geheimratsecken.
    Er hatte Notiz von mir genommen und mich nicht ignoriert, aber auch noch nicht angesprochen. Dieser Mann hatte Angst vor mir. Marie sah überhaupt nie in meine Richtung, so dass ich die Szenerie unter dem wilden Wein ohne Behelligung im Auge behalten konnte, während ich mich am Rande hielt. Marie nahm neben Paul Platz, seine Hand glitt vom Knie ihren Oberschenkel aufwärts und legte sich auf den Rücken ihrer Hand, die schützend auf dem Unterleib ruhte. War meine Schwester etwa schon wieder schwanger? Am liebsten hätte ich Pauls Haut abgezogen, in Streifen geschnitten und sie in die schwarze Sauce zum Tintenfisch geworfen, weißes, blasses Sackgebilde mit Tentakeln dran. Sie wieder in eine Abtreibungsklinik begleiten zu müssen, war zwar eine absurde Vorstellung, aber in mir brodelte die Erinnerung, dass ich ihr am liebsten den Spieß, auf dem in der Küche das duftende Lamm gegrillt wurde, ins eigene Fleisch gejagt hätte. Natürlich schmeckte der Eintopf versalzen, denn ein Sprichwort sagt, wer verliebt ist, versalzt das Essen. Ich spuckte aus.
    Es war mir klar, dass ich bereit gewesen wäre, auf Knien zu Marie zu rutschen, um von ihr wahrgenommen zu werden. Doch Ungeduld war nicht notwendig. Der Schmaus würde noch länger dauern. Sie krümmte sich vor Paul, das sprach für Treue und bedeutete mobile Partnerschaft. Ich beobachtete Paul. Er war der Träger zweier Seiten, Wissen um Marie und mich. Ich nahm das Besteck auf. Ich war bereit, mich an den Tisch zu setzen. Marie erschrak. Sie hatte nicht mit mir gerechnet. Sie schluckte, hyperventilierte, und als sie zu kreischen begann, wurde mir schwarz vor Augen.
    Die Ohnmacht war nur eine Schwäche, weil ich seit Tagen nichts gegessen hatte. Ich wollte ja sparen, aß wenig und spürte ohnehin nie Hunger. Ja, ich war abgemagert. Dünn wie der Tod, sagte Marie später. Und es stimmt, meine Venen traten aus der Haut hervor wie angeschwollen, weil sie nicht in Fettgewebe eingebettet waren. Marie war entsetzt über mein Aussehen, wie ich über ihres. Die verweinten Augen, die Tränensäcke, die hängenden Mundwinkel und die schlaffen Wangen, in denen die Trauer schwer wog, nahmen sie ein Stück weit in die Nähe des Todes mit.
    Ich erwachte im engsten Kreis der Familie, im Haus der Witwe meines Stiefvaters. Marie zeigte sich fürsorglich unter dem Terrassendach des einstöckigen

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