Schwestern der Angst - Roman
in diesem Augenblick der Eröffnung. Es bestand für mich kein Zweifel, dass der Vater des Kindes Paul gewesen wäre. Dieser Geselle, der meine Ohnmacht ausgenutzt und mich vergewaltigt hat, hätte uns beide auf dem Gewissen gehabt. Marie und mich und die Ungeborenen dazu. Dieser Teufel schwebte deshalb in Lebensgefahr. Meine Geduld nahm innerhalb von Sekunden ein Ende. Mein Herz ist noch heute versteinert, weil es mir leidtat, was er mit Marie gemacht hatte. Sie war minderjährig und er ein Päderast. Ich schwor mir damals, ihn für sein Verbrechen zu richten.
Maries Abtreibung war ambulant durchzuführen, das Unternehmen ließ sich so leicht verheimlichen. Zu Hause kroch Marie ins Bett und ruhte, um keine Nachblutung zu provozieren. Sie lag im weißen Federbett und erzählte von ihren französischen Abenteuern. Vater fragte nicht weiter nach, warum sie im Bett lag. Marie war in seinen Augen krank, von der Reise und der Umstellung gefordert. Wie krank ich war, sah er nicht. Dabei war ich weiß wie die Wand. Ich musste lügen, um Marie zu schonen, um nur ja nicht Grund für einen Skandal zu schaffen. Ich hatte nichts auf dieser Welt als meine Familie. Ich kochte Tee für Marie und rührte Eis für Vater. Pauls Name kam weder über Maries noch über meine Lippen. Marie war glücklich, weil erleichtert und bereit, ihre Freiheit in vollen Zügen zu genießen. Sie wollte weg von zu Hause, so schnell wie möglich. Nach Frankreich zurück. Sie hatte kein Mitgefühl mit meiner Sorge um sie, mit meinen Verlustängsten.
Ich brachte keine Konzentration für meine Prüfungen auf. Als ich im Herbst wieder durchfiel und die Klasse zum zweiten Mal wiederholen hätte müssen, ging ein Riss durch mich, denn ich hörte, wie Vater resignierend sagte: Sie taugt nicht zum Lernen.
Ich pflichtete ihm bei. Mein Entschluss, die Schule ganz aufzugeben, fiel mir leicht, denn ich wäre die um Jahre älteste Schülerin der Klasse gewesen, diese Schande wollte ich nicht weiter auf mich nehmen. Ich versuchte, Vater einen guten Dienst zu erweisen. Er plante, Ferien in Griechenland zu verbringen, und ich schlug ihm vor, während des Winters ganz zu seiner Griechin zu ziehen. Ich würde zu Hause bleiben und alles für die kommende Saison vorbereiten. Er war einverstanden, und ich brach endgültig die Schule ab. Paul würde mich im nächsten Sommer schuften sehen und vielleicht eines Tages dafür lieben. Marie zeigte sich dankbar, denn so konnte sie ihren Weg gehen und trotzdem das Zuhause behalten. Sie behandelte mich mit Respekt, und so lange kein Kerl in der Nähe war, widerstand sie auch dem Ruf ihres Körpers nach Loslösung von mir.
Im Winter, als der Eissalon geschlossen hatte, verdingte ich mich zusätzlich in einer Tierhandlung als Assistentin. Meine Tätigkeit war darauf beschränkt, die Käfige zu putzen, Futter und Wasserbehälter zu warten, den Boden aufzukehren. Zwischen Wellensittichen und Kolibris hausten Schlangen. Das Neonlicht surrte über ihrem Terrarium. Mäuse mit auffällig langen Beinen liefen in einem vergitterten Bottich herum. Spinnen kletterten über graue Steine und Heuschrecken hockten auf der Glaswand ihres Terrariums, bevor sie geangelt und an den Leguan verfüttert wurden.
Marie besuchte mich nur einmal in der Tierhandlung. Der Brechreiz würgte meine Schwester, als sie die Maus im Maul einer Schlange stecken sah, wie sie mit den Hinterläufen zappelte, während sich der Kaltblüter die Beute einverleibte. Marie war übel von dem Anblick, aber abends, als sie von Frankreich erzählte, floss ihr das Wasser im Mund zusammen, als sie das Wort Froschschenkel nur aussprach und, Paul verleugnend, die Geschichte einer Affäre mit einem Grafen auftischte, der ihr das Kind zu den Fröschen gemacht hätte.
Marie maturierte mit Auszeichnung und begann daraufhin ein Französisch-Studium in Paris. Ich hingegen bekam Neurodermitis. Der Wunsch nach Hautkontakt drückt sich im Juckreiz aus. Je mehr ich kratzte, desto brennender die Begierde nach weiterer Berührung. Ärzte fanden heraus, dass ich an einer affektiven Störung litt. Ich bekam eine Therapie verordnet. In den folgenden Sitzungen stellte sich heraus, dass ich eine Beziehungsbettlerin sei. Die Nervenzellen züngelten nach Liebkosung. Noch heute halte ich Diät und benütze Cortisonsalben, um mich zu zügeln. Meine Wäsche pflege ich mit einem Spezialreinigungsmittel. Erstaunlicherweise erhält man es auch im Diskont- Supermarkt. Aber man soll nicht zu viel Hoffnung
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