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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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mich nach wie vor als Schwester liebe, aber angesichts meiner Krankheit keine andere Möglichkeit gesehen habe, als jeglichen Kontakt abzuwehren. Tatsächlich waren wir, als Marie zwischen Wien und Paris gependelt war, noch brieflich, telefonisch, später via E-Mail in Kontakt, dann war irgendwann der Tag gekommen, an dem ich meine an sie geschickten E-Mails zurückbekommen, an dem das Telefon nicht mehr funktioniert und die Postadresse nicht mehr gestimmt hatte.
    Paul vermutete, so sagte er, wir hätten als Familie eine sehr schwierige Geschichte hinter uns. Eine tote Mutter sei nicht nichts, der tote Stiefvater auch ein Phänomen. Doch, so sagte er weiter, ich solle mich bloß nicht von den Ungereimtheiten verwirren oder einschüchtern lassen, mein leiblicher Vater, den ich nie zu Gesicht bekommen hatte, hätte mich geliebt wie ich ihn, und auch meine Mutter, die ich kaum erlebt hatte, hätte mich geliebt, ich sei ihr erstes Kind gewesen und das sei eine besondere Beziehung, die durch nichts ersetzt werden könne. Er könne mir helfen, diese meine Welt zu enträtseln, sagte er. Er könne auch mich selbst zum Enträtsler meiner Welt ausbilden.
    Ich hörte meinem Peiniger fasziniert zu. Paul gab sich sehr einfühlsam. Er saß mit mir auf der Bank und hielt mich fest, weil mich Schüttelfrost erfasste und mein Gerippe klapperte. Eine so famose Dame, sagte er, nahm meine Hand und massierte die Finger, diese zarten Seerosenblätter in der Farbe eines opalfarben schimmernden Maskengesichts, das mir vor zusammengekniffenen Augen wie auf einem stieldünnen Hals von blendenden Lichtwellen getragen erschien. Mein Gehirn granulierte, als er meine Hände behauchte und Marie aufforderte, mir eine Jacke zu bringen. Marie gehorchte, sie brachte eine Jacke. Sie war noch immer wütend auf mich, deshalb schleuderte sie die Jacke auf den Boden vor meine Füße. Sie lag im Staub wie das Haupt einer Riesenschlange. Paul hob das Kleidungsstück auf und schüttelte es sauber. Ich schlüpfte in die Schläuche der Ärmel. Ich dankte für Wärme. Meine Zunge fühlte sich porös an, als wäre sie aus altem Gummi, und um nicht aus dem Mund zu bröseln, verlangte ich Wasser. Jeder kann in Ruhe vor sich hin altern, sagte Paul, ohne seinen Mitmenschen zur Last zu fallen. Humorvoll, sportlich, gleichgesinnt mit dieser verständnisvollen Haltung, zollte mir der infame Lustmolch Respekt. Das Wort „désir“ ist der Keimfleck meiner unausgebrüteten Idee von Gemeinschaft, aus der sich das Auge einer Friedenstaube entwickeln könnte. Vielleicht war Paul die Friedenstaube und würde mich mit Marie befrieden. Marie war trotzig, sie trat wie ein kleines Kind ungeduldig von einem Bein auf das andere, verschränkte die Arme. Sie drehte sich hin und her und raunte Paul zu: „Bitte, Paul, rede nicht mit ihr, es ist sinnlos.“
    Marie willigte ein, mich bei sich zu behalten, wenn ich mich in den folgenden Tagen psychologischen Tests unterzöge. Mir war wichtig, sie zu gewinnen, deshalb ließ ich mich auf diese Tortur ein. Ich faltete Blätter und führte sinnlose Aufträge aus, etwa das gefaltete Blatt auf den Boden zu legen und wieder aufzuheben. Mein Sprachzentrum wurde geprüft, ob es Bedeutung und Zeichen kombinieren könne. Ununterbrochen wurde ich nach Datum und Wochentag gefragt, nach dem Ort, an dem ich mich gerade befand. Eine lange Reihe von Symbolen wurde mir vorgelegt und ich musste sie benennen und Paare bilden. Dann musste ich Wörter zu Sinneinheiten ergänzen. Ich meisterte die Tests in Minimalzeit, auf den Worttest erhielt ich die volle Punkteanzahl, was mir den IQ einer Hochbegabten auswies.
    Ich schlief viel und Marie war ausgeglichen. Ich vertraute dem Psychologen der Insel auch bei der Verabreichung starker Antidepressiva. Ich sei traurig, sagte er, meine wichtigsten Bezugspersonen seien mir früh abhanden gekommen. Ich müsse diese Trauer zulassen. Den Zustand der Trauer würde ich erst wieder spüren, wenn mein Körper das Gefühl für Hunger wieder erlernt habe. Dieser Mann hatte wirklich keine Ahnung von den wahren Zusammenhängen. Er warf mir Verdrängung vor. Ich aß Schokolade, um mich zu trösten.
    Marie kochte für mich. Sie wollte mich schnell aufpäppeln, um mich guten Gewissens bald wieder nach Hause abzuschieben. Aus Liebe zu ihr aß ich sogar Innereien und kotzte sie später wieder aus.
    Wir besuchten Stiefvaters Grab. Er war nicht mein Vater, aber ich könne in diesem Grab auch meinen leiblichen Vater betrauern, meinte

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