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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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der Psychologe. Steine waren aufgeschichtet, grauer Schiefer, Katzensilber. Lilien steckten in den Spalten und die erschlafften Köpfe klebten wie hingeklatschte Quallen auf dem heißen Stein.
    Es war eine schöne Woche. Um sie zu verlängern und meinen Abflug hinauszuzögern, beschloss ich, jeden Rat langsam zu befolgen. Der Psychologe legte mir ein Bild von zwei Pferden vor und fragte mich, wie viele Augenpaare sich auf dem Bild befänden. Die Felsformationen der Schlucht, in die sich die Pferde – den Schimmel verband ich mit mir, den Rappen mit Marie – verirrt hatten, besaßen detailgetreue Augen, doch nach längerem Hinsehen traten Gesichter und Profile überall in der Natur zutage, die zwei am Flussbett stehenden Pferde wurden von Blicken verfolgt, die in Steinhaufen hausten, in Ritzen und Schlitzen, in den Blattformationen der Bäume und in der Wildnis tosenden Wassers. Ich ließ Würfel kippen und musste die Anordnung der Augen nachzeichnen. Vexierbilder lernte ich zu dekodieren. Entenschnäbel von Hasenohren zu unterscheiden war gar nicht so leicht, weil ich die Formen verwechselte.
    Vor dem Fenster zwitscherten Stare auf der mit Stacheldraht besetzten Verplankung eines verlassenen Stalls. Tenöre. Auch sie waren, wie jedes Leben, sterblich, und ihr Gesang machte traurig. Ein Mann, der einen Anzug trug, fädelte gerade ein Vorhängeschloss in die rostigen Kettenglieder des Tores. Unter seinem Arm klemmte eine Papierrolle. Er verschwand aus dem Blickfeld. Dann legte mir der Psychologe das Bild einer Vase vor. Delphine turnten als Muster auf der Vase herum. Ich zählte die Delphine. Der letzte stand auf dem Kopf, die Schwanzflosse ragte hoch. Der Psychologe lenkte meine Aufmerksamkeit auf die weißen Flecken links und rechts dieses Delphins. Ob ich sie als das erkenne, was sie zeigten? Wie nähmen sich die weißen Flecken aus? Dann kippte das Bild in eine ganz andere Bedeutung. Es zeigte gar keine Vase. Die weißen Flecken zwischen den Delphinen waren die Schenkel einer Frau. Die Frau kniete und lehnte sich nach hinten. Ihr Schamdreieck war als Schwanzflosse eines Delphins dargestellt, der den Schatten zwischen ihren Beinen ausmachte. Mir wurde mulmig. Der Psychologe war vorsichtig bei seiner peinlichen Befragung. Die Stimme wurde leiser und er nahm die Spitze seines Kugelschreibers zu Hilfe, um nicht direkt in Kontakt mit den Delphinen zu geraten, die auf den zweiten Blick den Geliebten dieser Frau zeigten, der sie erotisch von hinten umarmte. Die Delphine bildeten die Umrisse des Mannes. Mein Verlangen zu sehen, was der Psychologe mich erkennen lassen wollte, schnappte mit immer heftigeren Zubissen nach der Unschuld, die ich in meinen Körper eingebettet sah wie in unberührte Landschaft. Ich bemühte mich, die Intimitäten der abgebildeten Fleischlichkeit zu erkennen, war aber nicht in der Lage, sie mit einem erotischen Genuss zu verbinden, und konnte deshalb nicht ein Liebespaar sichten, bloß eine Frau in der Gewalt eines Mannes. Ich war weit über zwanzig und sexuell erfahren, doch wenn ich Männerhände sah, dachte ich in erster Linie an malträtierende. Ich betrachtete sehr lange das Bild der Vase, bis sich mir der Inhalt als erotische Reifeprüfung erschloss – von Gewalttätigkeit sah ich keine Spur mehr, nur angedeutet war der Griff nach der Frau, die willig schmolz wie Eis auf der Zunge.
    Blätter knisterten. Der Psychologe schrieb und las, was Wirklichkeit innerhalb meiner Wirklichkeit war. Meine Welt war Fiktion, wie auch die Welt an sich eine Fiktion ist, und darin liegt die Friktion, die meinen Zustand erzeugte. Ich funktionierte nicht reibungslos, nicht weil ich Fehler machte, sondern weil ich einen Fehler im Betriebssystem hatte.
    „Störungen lassen sich beheben, wenn es eine Ursache gibt“, sagte der Psychologe und kam auf meine Herkunft zu sprechen. Mein Verhältnis zu Großvater interessierte ihn sehr. Meine Mutterlosigkeit. Meine Schwester. Die Beziehung zu Männern. Insbesondere zu Paul, dessen Namen er ins Spiel brachte. Seiner Meinung nach wüteten in mir Geschwisterneid und ein verdrehtes Männerbild. Ich freute mich, wenn ich Reaktionen auf meine Geistesarbeit erhielt. Pauls Deutungen waren Unsinn. Der Psychologe fand mich hochinteressant. Ich war zu klug für seine Manipulation.
    Er wollte in einem letzten Test, dass ich rechnete. Und zwar rückwärts. Ich sollte von 100 die Zahl 7 abziehen. Was mir ohne Probleme gelang. Er sagte: „Gut. Sehr gut. Jetzt machen wir eine

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