Schwestern der Angst - Roman
Pause.“ Ich ging ins Wartezimmer, aufs Klo, ins Wartezimmer. Alles, was ich draußen sah, war griechische Landschaft, dahinter das Meer und seine Mythen von narzisstischen Göttern. Ich hörte meine Stimme wie im Traum sagen: „Das Positive soll man immer wieder tun.“ Und ich tat es, ich sah aus dem Fenster und staunte über die Schönheit der Schöpfung. Wohin die Liebe strebt, das liegt vor uns. Ich ließ mich leiten und trat auf die Terrasse. Da rief mich die Stimme des Psychologen zurück.
Ich setzte mich an seinen Sekretär und er sagte, er würde mich nun aufklären. Ich leide an einer massiven Denkstörung. Ich erlebe Sexualität als Schändung. Dies sei meine Wirklichkeit. Ob Paul oder mein Großvater mich vergewaltigt haben, sei für mich letztlich egal, da ich meine Wirklichkeit konstruiere, und so, wie ich sie konstruiere, erlebe ich sie. Im Grunde meinte er, selbst wenn Paul mich tatsächlich missbraucht haben sollte, könnte es in seiner Wirklichkeit anders zu verstehen gewesen sein. Im Grunde sagte er, Schuld gebe es nicht, nur das Leiden. Und im Grunde sagte er, dass ich alles wisse, und es sei nichts.
Ich schwieg zu seinen Worten, nahm die Laute nicht mehr auf, meine Ohren schlossen sich, wie ertaubt durch den flammenden Gedanken, Marie davor zu retten, sich in eine Wirklichkeit zu verstricken, die mit meiner nichts zu tun hatte. Dass ich nicht lache. Unsere Körper waren ursächlich miteinander verbunden und daran gehörte erinnert. Der Mensch braucht einen Boden unter den Füßen und einen Zusammenhang, um zu überleben. Marie war ahnungslos, weil sie die Liebe mit Paul konstruierte, natürlich gehörten gegen solche unheiligen Konstellationen Maßnahmen gesetzt.
Die Laternen glommen in der Dämmerung. Leichter Nieselregen aus der Sprinkleranlage malte einen schmalen Bogen Nässe auf den Weg. Am Rande des Gartens schwoll Rauch an, stieg aus der Mulde des verwachsenen Kraters eines Bombeneinschlages im Zweiten Weltkrieg, wo jetzt eine Feuerstelle errichtet war. Auf dem Rost brutzelten Koteletts. Marie stand mit einer Grillzange dabei und zwickte das Fleisch, um es zu wenden. Der Rauch kroch, floss, wölkte, bauschte sich, als das Fett tropfte. Paul ruhte auf der Terrasse. In seinen Fingern ruhte das Perlenkettchen. Die Zigarre qualmte. Sein Gesicht war umhüllt, als er Marie zurief: „Totale Einsamkeit ist normalerweise erst gegeben, wenn der Körper Schluss macht mit uns.“
Marie hob das Fleisch vom Rost, damit es nicht in den Stichflammen verbrannte. Sie rief Paul über die zischenden Flammen hinweg zu: „Der Körper ist aber jetzt schon Renates einzige und letzte Gesellschaft, die sie hat.“
Paul saugte an der Zigarre und rief: „Sie wird dich nie in Ruhe lassen!“
Marie sagte: „Wir sind eine Familie.“
„Wir sind eine Familie!“
„Ist das dein Ernst?“
„Lass sie uns gründen.“
Marie ließ das Fleisch fallen, warf die Zange hin. Feuer und Flammen loderten auf. Sie warf das Werkzeug weg, so achtlos wie sie mich behandelt hatte, lief zur Terrasse und warf sich in Pauls Arme, diese kleine Hure.
„Renate“, sagte Marie überrascht und schnellte aus dem Gartensessel hoch, als sie mich hinter den Büschen hervortreten sah.
„Darf ich euch Gesellschaft leisten?“, fragte ich höflich. Hass gegen Paul und Liebe für Marie zerrten an meiner Fassung. Pauls Zigarre roch nach Dung. Er streifte die Asche ab, doch ich war ihm nicht egal. Seine Anspannung war zu spüren. Er suchte den Horizont nach Schiffen ab. Marie fixierte mich. Sie schien in mir die Titanic zu sehen, mächtig und dem Untergang preisgegeben. Das Wasser stand schon in ihren Augen, sie hatte Mitleid, so nah war sie mir. Paul dagegen war gnadenlos und sagte: „Renate wirft mir Ungeheuerlichkeiten vor und ist dabei nicht einmal in der Lage, den Zehner zu überschreiten. Sie ist unfähig, sieben von hundert abzuziehen. Ich habe das Testergebnis analysiert. Sie glaubt nur, sie habe richtige Resultate erzielt. Sie glaubt, sie kann eins und eins zusammenzählen. Aber sie kann es nicht. Vergiss sie.“ Dazu klapperte diese falsche Schlange mit dem Perlenkettchen.
Ich wich zurück. Er hatte seine Schweigepflicht gebrochen. „Paul“, sagte Marie, mich zum dritten Mal verratend, „wenn du das sagst, vertraue ich dir.“
Wie schnell Mitleid in Verachtung umschlagen kann. Ein Lidschlag genügte, um die Tränen und mich wegzuwischen. Ich kehrte auf dem Absatz um und verließ die Terrasse. Ich pumpte mich mit
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