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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Sauerstoff auf und schritt wie eine Raubkatze auf allen Vieren von dannen. Marie schauderte und rief: „Paul!“
    Aus dem Lichtkegel hinaustretend, meinem Atem folgend, tapste ich in die Finsternis. Ich hatte lange geglaubt, dass Macht sich abkapselt. Aber das war ein Irrglaube. Macht vernetzt sich und ist offen für alle. Auch für mich. Paul hatte Macht über Marie und es stand mir frei, mich angepasst zu benehmen oder nicht. Ich lungerte hinter den Büschen und schlich auf allen Vieren um den Lichtkegel herum, der meine kopfschüttelnde Schwester ausleuchtete. Sie legte die zum Trichter geformten Hände an den Mund und brüllte „Renate!“ ins Nichts. Damit konnte sie mich nicht mehr ködern. Das Spiel war durchschaut, die beiden wollten mich kränken, pathologisieren. Paul legte seelenruhig die Zigarre ab, während Marie auf der Terrasse hin und her strich wie eine Gefangene.
    Da stampfte Marie auf und kreischte den Neurologen an: „Tu endlich was!“
    „Man kann nichts tun“, sagte Paul. „Sie gehört untergebracht.“ Dann warf er die Zigarre ins Gras.
    „Ich will endlich Frieden“, flennte Marie.
    „Gib ihr Zeit“, sagte Paul, „sie wird deine Wünsche einsehen.“
    Marie stieß einen Seufzer der Hoffnung aus. Paul legte den Arm um sie, drückte die Lippen auf ihre Stirn. Das Paar zog sich ins Haus zurück. Die Tür blieb offen.
    Ich schnappte die Zigarre und kletterte auf die Terrasse. Ich setzte mich in Pauls Sessel, genoss den Tabak und überlegte, wie ich die Schandmäuler für ihren Verrat an mir strafen könnte. Eine Lehre war zu erteilen, um sie zum Schweigen zu bringen.
    Paul und Marie waren es gewohnt, einen Schlummertrunk zu nehmen. Schlaftabletten, aufgelöst in hochprozentigem Alkohol, ergeben einen bekömmlich einschläfernden, komatösen Magenbitter. Ich hielt mich derweilen im Arbeitszimmer auf und durchsuchte die Laden des Schreibtisches nach brauchbaren Details. Die starken Beruhigungsmittel in meiner Tasche mussten genügen, um ihr Gutes zu tun. Ich vermengte sie mit einem Sieben-Stern-Metaxa.
    Der Digestif wirkte. Nach einer Stunde lag das Liebespaar eng umschlungen tief im Schlaf. Beider Lippen standen leicht offen. Die Gesichter einander zugewandt, zwei Profile auf einem Kissen, noch in Morpheus’ Armen durch einen Kuss vereint. Ich hatte zwischen Scheren, Brieföffner, Lochapparat und Heftklammermaschine eine Tube Superkleber gefunden. Im Schlafzimmer roch es nach frisch gewaschenem Bettzeug. Ich entschraubte die Tube und drückte eine Spur der dünnen, haftstarken Flüssigkeit auf Maries Unterlippe. Sie zitterte stimuliert. Paul schürzte die Lippen und ich tropfte die Tinktur in den Lippenspalt. Das Paar suchte einander, die Lippen mümmelten füreinander und ich tropfte noch mehr Kleister in die Fuge. Das Paar presste nach ein paar Sekunden von allein die Lippen aufeinander. Ich half noch ein wenig nach, indem ich meine Hände in die Nacken legte und die Schädel einander zuschob und den Kussdruck von außen erhöhte. Die runzeligen Häute absorbierten die Tinktur gierig und nach ein paar Sekunden war sie getrocknet und hatte die Lippen aneinandergeklebt.
    Marie juckte zunächst der Reiz des trocknenden Superklebers. Die Oberlippe verspannte sich, als die Mundwinkel in die Wangen zurückfielen, das Kinn wollte nach unten klappen, doch blieben die Lippen geschlossen, dehnten sich nur. Paul schob die Zunge über die Schneidezähne unter die Oberlippe und beulte die Furche zwischen Nase und Mund aus. Der Schnauzer wölbte sich, wie Stacheln richteten sich die Barthaare auf. Der Mund war geschlossen, nur die Gesichtsmuskeln arbeiteten, zerrten in der Epidermis nach Entspannung. Jetzt hatten die beiden ihre Vereinigung, den Hochzeitskuss konnten sie sich sparen.
    Das genügte mir. Paul schlug als Erster die Augen auf. Bevor das Theater losging, machte ich mich auf die Socken, um die Insel zu verlassen.
    Am Flughafen wurde ich aufgegriffen. Ich war ohne Schuhe unterwegs, das fiel auf. Meine Zehen ragten aus dem Kaschmir-Seide-Gemisch. Die Socken waren löchrig, das Material zu edel für die Strapaze des Wegs zum Flughafen. Der Tag war noch nicht angebrochen, ich hatte zehn Kilometer zu Fuß bewältigt und rauchte nun in der Halle die Zigarre fertig, die Paul weggeschmissen hatte. Rauchen war verboten. Die Abflughalle war voll mit Menschen. Die Charterflüge hatten sich verspätet und die Touristen lagerten in Gruppen, ausgeliefert an die zeitraubenden Transportwege. Der

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