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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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nach Paris zu geraten. Ich bestand auf einem Gangplatz, denn so hatte ich das Gefühl, jederzeit flüchten zu können. Ansonsten gab ich mich unauffällig und hüllte den Kopf in ein Tuch. Dass ich verfolgt wurde, spornte mich an, Marie noch rascher zu finden. Trotzdem ließ ich es mir nicht nehmen, meinen Koffer aufzugeben. Ich hatte keine Lust, das Gepäck hinter mir herzuziehen.
    Europa bot, was es versprach, uneingeschränkte Reisefreiheit mit allen möglichen Verkehrsmitteln. Vom Flughafen in Brüssel fuhr ich mit dem Taxi zum Bahnhof. Unterwegs checkte ich an einem Internet-Terminal die Standesämter. Saint-Michel-sur-Orge, Île-de-France, so hieß der Ort, an dem das Paar zur Trauung angemeldet war.
    Ich reihte mich wieder in eine Schlange und erinnerte mich an eine TV-Reportage, die ich Jahrzehnte zuvor gesehen hatte. Ein Mann in weißem Kittel erklärte in französischer Sprache das Modell eines Hochgeschwindigkeitszuges und er verglich seine Segmente mit der Physiognomie einer Boa. Und nun, zwanzig Jahre später, kaufte ich mir ein Ticket für diesen verwirklichten Traum eines Hochgeschwindigkeitszuges. Das Bild einer Boa war mir so lebhaft in Erinnerung, dass der Drang, wärmende Vertrauensseligkeit in die Technik zu entwickeln, wuchs, weil ich in ihr das Erbe der Echsen als aus unergründlichen Schichten des Stammhirns zu Tage tretende Urform unserer Allmachtsphantasien erkannte. Zwischendurch kaufte ich Obst und in der Apotheke ein Skalpell, um das Kerngehäuse wegzuschneiden.
    Die rot gemalten Lippen der Brüsseler Dame am Schalter spitzten sich aus dem Profil wie ein Hütchen, als sie französisch sprach, die Sprache, in der ich den Rest meiner Suche nach Marie zu veranstalten hatte. Selbst wenn ich mich auf akustisch Wahrgenommenes konzentrierte, wie etwa auf das flatterige Geräusch der weiterblätternden Nummernmaschine, bevor man an den Schalter treten durfte, dachte ich auch stets an das Geld, das ich für Marie seit Jahrzehnten sparte. Erst wenn ich Marie eine Therapie für die bevorstehende Trennung von Paul bezahlen könnte, würde ich den Kopf frei haben, mir einen erfüllenden Job zu suchen. Ob ich Paul als Bräutigam akzeptiert hätte, hätte er sich je bei mir entschuldigt? Paul war zwar Menschenarzt, doch er war und blieb ein unberechenbares Raubtier.
    Ich erhielt Sitzplatz und Wagennummer ausgedruckt auf warmem Papier und konnte mich sogleich auf den Weg machen. Zuvor rüstete ich mich noch mit einem Lunchpaket aus.
    Eine Dame im Kostüm saß telefonierend im Waggon. Sie parlierte in drei Sprachen und sagte keinen Blödsinn. So stellte ich mir Marie vor: elegant und souverän. Ein grimmiges Grinsen um dieses Mündlein. So grinst man, wenn man gerade Recht bekommen hat und Genugtuung mit etwas Schadenfreude vermischt. Ich lauerte auf ihre Worte wie eine Katze auf Beute. „Fuck la discipline“, sagte die Dame. Aus kaffeebohnenartig geformten Nasenlöchern stieß das Lachen der Sitznachbarin, deren Atem mich streifte, was mich sehr störte und von der eleganten Dame ablenkte und mich an die Innentasche meines Mantels greifen ließ, um das Skalpell zu befühlen. Der Tomatensaft in meinem Plastikbecher wellte sich unter dem Luftstoß aus den Nasenlöchern. Ich bot ihn der Sitznachbarin an. Sie nahm ihn und wollte ihn sogar trinken, während sie lachte. Sie verschluckte sich, sabberte Tomatensaft auf ihr T-Shirt. Als hätte ich ihr das Skalpell bereits an die Kehle gesetzt und geritzt. Sie hatte sich mit den Kopfhörern einen anderen Raum aufgesetzt und bemerkte nicht mehr, dass sie blutete, als sie mitsingend aufjaulte. Auf dem T-Shirt stand „Accept the Challenge“. Ich fühlte mich von der Schrift verstanden. Die Armlehne trennte mich von der Nachbarin. Platzneid, weil die Sitznachbarin mit dem Ellbogen die Armlehne okkupierte. Wenn sie lachte, durchzwickte mich ein Muskelzucken. Ihr massiver Oberkörper bebte, während der Zug mit Hochgeschwindigkeit über das grüne Hügelland Belgiens fegte. Sie musste sich vor Lachen schütteln, bis ihr die Tränen kamen, was ich irgendwie verstehen konnte, bei ihrer Unförmigkeit. Ich fühlte mich klein neben ihr, fast, als wäre sie meine große Schwester und ich Marie. Ich achtete darauf, dass mein Unterarm auf der Lehne zu liegen kam, sobald sie frei war. Ich hob den Arm, als sie einen Kaugummi auswickelte, um sich den lappigen Streifen zu einem U gebogen in den Mund zu befördern, und schob meinen Ellbogen auf die Lehne. Ich beugte mich vor,

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