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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Hut in den Nacken und wendete den Kopf zu mir herauf in Maries Wohnung. Ich trat zurück. An seinem Arm baumelte ein durchsichtiger Plastikbeutel. Darin sah ich den hellblau gestreiften Pyjama.
    Auf dem Fensterbrett lag ein Bleistift. Ich schnappte ihn und ging an den Schreibtisch. Durch die Wiederholung der Formel „es war einmal“ war ich als Hörerin und Betrachterin immer auch Schöpferin einer Geschichte. Der einzige Wermutstropfen war, dass ich das Privileg der Deutungshoheit nur besaß, so lange ich privat und individuell blieb. Die Unsterblichkeit kommt nicht durch Ruhm, sie steckt in der Formel „es war einmal“.
    Ich gab mich mit geschlossenen Augen dem Beginn meiner Geschichte hin. Der Bleistift kratzte, schürfte seine Spur ins Weiß, um Marie die Wirklichkeit einer Sehnsüchtigen wahr zu machen. Dann läutete mein Mobiltelefon in der Handtasche. Die Telefongesellschaft schickte Informationen über verbilligte Tarife ins Ausland.
    Das Alleinsein bedarf der Gewöhnung und ist eine dauernde Übung. Es muss immer wieder Handlung erfunden werden, um die Einsamkeit zu ertragen. Meist gelang es mir, die Handlung durch die Stillbeschäftigung des Schreibens oder den Zeitvertreib des Wartens zu erfinden. Oft wollte ich ein Bad nehmen, nicht um zu entspannen, sondern um Spannung in mein Leben zu bringen.
    Ich saß am Tisch in Maries Wohnung und im Badezimmer rauschte das Wasser. Die Badewanne war mannslang und mannsbreit, sie verjüngte sich konisch, hier reinigte Marie den holden Körper. In der Küche hing eine Plastikschürze mit kreuz und quer sitzenden kleinen Bären auf weißem Untergrund. Auf dem Kühlschrank lag ein Stapel britischer Zeitschriften, ein Exemplar hatte ich auf den Tisch gelegt. Ein teigiges Gesicht, blutverschmiert und mit einem Verband um den Kopf, auf dem Titelblatt. Ich fühlte mich mitgenommen. Robert war schwer wegzuschaffen gewesen.
    Die französischen Kochbücher erzählen mir von Maries fleischlichen Genüssen. Fleisch hatte sie früher abgelehnt. Nach ihrem französischen Abenteuer hatte sie ihre Ernährung von Grund auf verändert. Anstatt mir ihr Vertrauen zu schenken, schwieg sie eisern über ihren Verführer in Frankreich. Sie war ungerechtfertigt unwirsch, unleidlich und schließlich unverhohlen feindselig gegen mich, wenn ich später ihre Unterhosen nach Indizien für die Monatsblutung untersuchte. Ich musste mich sehr oft gegen ihre Handgreiflichkeiten verteidigen, um meine Integrität zu bewahren und meinen Stolz zu spüren. Die Augen ihres Vaters füllten sich regelmäßig mit Tränen. Er ertrug meine Stimme nicht, wenn ich herumbrüllen musste, damit Marie die Wasserglasränder vom Waschtisch wischte oder die Kalkflecken von den Fliesen putzte, die überflüssig brennenden Lichter abdrehte und den Müllsack richtig vollstopfte. Dafür lobte er Marie für ihre schulischen Leistungen. Dabei waren ihre guten Noten auf meinem Mist gewachsen.
    In der Nacht, die ich in Maries Wohnung verbrachte, fiel ich wie ein Stein ins Bett, schwer, klein und alt. Die Augen fielen zu. Trotzdem wurde es nicht dunkel, als wären meine Lider nicht aus Haut, sondern aus Glas. Ich hatte die Augen geschlossen und trotzdem sah ich mich im Spiegel auf dem Bett liegen. Ich beobachtete die auf dem Bette liegende Frau. Was für ein Körper! Das Herz klimperte, ein Geräusch, als stießen Gläser an. Das Haar umfloss mich, Tränen glänzten auf den Wangen.
    Ich erhob mich, spürte ein Rieseln durch den Körper gehen, als wäre ich eine Sanduhr. Es kratzte im Hals. Ich schlürfte das Wasser und es schürfte in der Kehle, sobald ich schluckte. So verwandelte ich den Schmerz in Schutt.
    Ich stellte mir Marie her, knetete die Reste ihrer Präsenz zu einem Fluidum, um in ihrer Sphäre weiterzuleben. Ich wusch ihre Unterwäsche, kaufte neue Socken, bezog ihr Bett, benützte ihre Seife. Marie war mein Leben, und das Sakrament meiner Schwesternschaft lag im Kübelchen hinter der Toilette. Ich drehte das Licht nicht mehr an. So konnte ich ihre Gestalt besser erinnern, mir das Gefühl ihrer Nähe beim Kochen und Einkaufen und Fernsehen geben. Ich ging zur Garderobe und holte mein Handy aus der Tasche, wählte Maries Nummer, natürlich vergeblich.
    Es wurde Zeit, dass ich etwas für mich unternahm. Der Kommissar war eine zweifache Komponente für das Glück meines Lebens, ich wollte die Beziehung zu ihm schmieden und mich dazu in Form bringen. Ich setzte die Hände links und rechts auf den Boden, beugte den

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