Schwestern des Mondes 01 - Die Hexe-09.06.13
Vaters konnte im Dunkeln sehen, und obwohl das Bild für mich vielleicht nicht ganz so deutlich war wie für eine vollblütige Sidhe, konnte ich doch Farben und Formen mühelos erkennen.
Nach ein paar Minuten ließ ich die Heidelbeeren und Farne hinter mir und betrat eine kleine Lichtung, kreisrund, moosbewachsen und offen unter dem Himmel. Ich hielt inne und tastete mich durch die Energien, die ich spürte. Magie floss hier dick und reichlich – die Magie alter Wälder, dunkler Herren und tiefer Geheimnisse. Manche VBM konnten sie spüren. Einige menschliche Hexen und Heiden pilgerten förmlich zu meinem Laden und betrachteten mich mit leuchtenden Augen, weil das, woran sie so lange geglaubt hatten, endlich Wirklichkeit geworden war, wenn auch auf eine Art, die sie oft schockierte.
Ich sandte forschende Gedanken aus, und plötzlich spürte ich sie. Großmutter Kojote . Sie beobachtete mich, verborgen hinter einer der einzeln stehenden Eichen auf der Lichtung.
»Kommt heraus, kommt heraus, wo immer Ihr auch seid. Ich komme mit Fragen und Sorgen zu Euch, Großmutter. Ihr werdet gebraucht«, flüsterte ich.
Augenblicke später raschelte es im Unterholz am anderen Ende der Lichtung, und eine alte Frau trat hervor. Sie trug ein langes, graugrünes Gewand und bewegte sich lautlos über die Wiese auf mich zu. Ihr Haar war unter einer Kapuze verborgen, doch verfilzte weiße Strähnen lugten hervor und umrahmten ihr Gesicht. Es war so runzelig, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie sie jemals jung gewesen sein sollte. Die Falten sahen aus wie Risse in der Straßenkarte zur Ewigkeit.
Es schien, als sei sie schon alt zur Welt gekommen. Großmutter Kojote war eine Ewige Alte, ein Elementar; sie war an die Erde gebunden, diente jedoch allen Reichen. Sie lebte außerhalb der Zeit und war unsterblich – zumindest so unsterblich, wie dieser Planet es zuließ. Wenn die Erde starb, würde auch sie sterben. Kein Dämon konnte sie töten, kein Mensch konnte ihr etwas zuleide tun, und keine Fee aus der Anderwelt konnte sie betören. Niemandem untertan, stand sie in Verbindung mit allem, was auf dem Planeten lebte, jedem Ereignis, das sich auf seiner Oberfläche abspielte.
Sie sah mir in die Augen, und ich blieb still stehen und erlaubte ihr, in mein Wesen vorzudringen. Großmutter Kojote würde mit mir sprechen, oder auch nicht, ganz wie es ihr gefiel, doch mein Verhalten hatte großen Einfluss darauf, wie viel sie mir würde erzählen wollen.
»Was suchst du, Tochter Y’Elestrials und der Erde?«
Y’Elestrial ... meine Heimat in der Anderwelt. Ich sank in einen tiefen Knicks und verharrte auf den Knien.
»Sehr hübsch«, sagte sie mit beinahe meckernder Stimme. »Aber du weißt so gut wie ich, dass eine solche Vorstellung täuschen kann. Die reizendsten Manieren der Welt können eine leere Seele nicht verbergen. Steh auf und lass mich deinem Herzen lauschen.«
Ich erhob mich und setzte mich neben sie auf einen der umgestürzten Baumstämme. Die Wolken rissen auf, und der Buckelmond schien durch die Bäume; seine silbrigen Strahlen beleuchteten unsere Gesichter.
»Ich gehöre zum AND, und ich habe Fragen zu einem Mord und den Machtverhältnissen, die sich in jüngster Zeit verschoben haben. Wir müssen wissen, was vor sich geht. Würdet Ihr mir helfen?«
Großmutter Kojote starrte mich an, und ihr Blick spaltete mich, öffnete mich so weit, dass sie jedes Atom in meinem Körper betrachten konnte, jeden Gedanken in meiner Seele. Ich fühlte mich, als sei ich nackt mit ausgebreiteten Gliedmaßen an einen Felsen unter dem Sternenhimmel gefesselt, diesem prüfenden Blick ausgeliefert, der jeden Makel und jede Stärke bloßlegte.
Gleich darauf bedeutete sie mir, ihr zu einem der nahen Bäume zu folgen. Der Stamm war gewaltig – so breit, dass mehrere Männer hineingepasst hätten –, und als sie sich näherte, schimmerte ein Licht auf, und ein Durchgang bildete sich im Holz. Sie zog den Kopf ein und betrat den Baum, und ich folgte ihr.
Innerhalb des Baumstamms gingen wir einen Pfad aus festgetretener Erde entlang, erhellt von tanzenden Lichtern und zu beiden Seiten von Nebel und Schatten begrenzt. Am Ende kamen wir zu einer Höhle, in der ein kleiner Tisch und zwei Stühle aus Eichenholz standen. Die Astlöcher und Knoten im Holz blinzelten, als ich mich auf dem Stuhl ihr gegenüber niederließ. Ich hatte das scheußliche Gefühl, dass ich mich jemandem aufs Gesicht gesetzt hatte, schob es aber rasch beiseite. Dies
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