Schwestern des Mondes 01 - Die Hexe-09.06.13
hätte darauf wetten können, dass das Hauptquartier die ganze Sache als Zufall abtun würde, bis wir das Geistsiegel in der Hand hielten und es ihnen unter die Nase rieben. Aber Vater hatte schon früher mit Bad Ass Luke zu tun gehabt. Und Vater vermutete, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Chase zuckte mit den Schultern. »Klingt ganz danach. Sie haben jedenfalls unmissverständlich klargemacht, dass es uns nichts nützen wird, über die offiziellen Kanäle irgendetwas anzufordern.«
»Toll«, sagte ich und starrte auf meinen Teller.
Delilah sammelte ihn ein und räumte ihn mit dem restlichen Geschirr ab. »Und, hast du noch etwas über Tom Lane herausgefunden? Weißt du jetzt, wo er wohnt? Als ich gestern Nacht gegangen bin, waren wir in einer Sackgasse gelandet.« Sie errötete, und ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
Chase betrachtete sie unverhohlen. »Ja, ich habe weiter nachgeforscht. Ich habe ein paar Stunden geschlafen und dann alte Datenbanken durchforstet. Es gibt einen Tom Lane, der an der Grenze zum Nationalpark wohnt. Sein Haus liegt knapp einen Kilometer vom Goat Creek entfernt – allerdings handelt es sich nach allem, was ich gefunden habe, eher um eine Hütte als um ein richtiges Haus. Er hat anscheinend keinen festen Job, ist aber auch nicht für irgendwelche Sozialleistungen eingetragen. Das ist alles, was ich weiß.«
»Dann haben wir immerhin einen Anhaltspunkt«, sagte ich.
Chase deutete auf den Kalender. »Wir haben Oktober, und inzwischen sind viele Straßen am Mount Rainier gesperrt. Es wäre verteufelt schwierig, durch den Nationalpark zu kommen, also hoffe ich sehr, dass wir Tom Lane da finden, wo wir mit der Suche anfangen.«
Ein Klopfen an der Tür verkündete uns, dass Iris gekommen war. Sie strahlte Besorgnis und Mitgefühl aus, und allein durch ihre Anwesenheit fühlte ich mich gleich besser. Diese strahlend blauen Augen hatten schon eine ganze Lebensspanne von Elend, Krieg und Hunger gesehen, und dennoch liebte Iris die Menschen immer noch so sehr, trotz all ihrer Fehler.
Chase war mit einem riesigen alten Jeep vorgefahren, in den wir alle hineinpassen würden. Während er und Delilah unsere Ausrüstung aufluden und – so vermutete ich – über ihre Liebesnacht sprachen, zeigten Morio und ich Iris, was Maggie zu fressen bekam und wie das Haus am besten zu verteidigen war. Trotz ihrer zarten Statur war Iris sehr wohl in der Lage, einen Angriff abzuwehren; außerdem hatte sie ja Feenblut und verfügte über Verteidigungszauber, die sie verblüffend gut beherrschte. Als wir uns zum Aufbruch bereitmachten, blickte ich mich ein letztes Mal in unserem Haus um und hoffte, es würde noch stehen, wenn wir zurückkehrten – und Menolly würde noch... nun ja, so lebendig sein, wie es einer Untoten eben möglich war.
Jockos Tagebuch lag auf dem Küchentisch. Bei all der Aufregung um den Fellgänger hatte ich es ganz vergessen. Ich stopfte es in meine Schultertasche und eilte zur Tür hinaus. Wir kletterten in den Jeep; Chase und Morio saßen vorn, Delilah und ich auf dem Rücksitz, und so machten wir uns auf, Tom Lane zu finden.
Kapitel 12
Unterwegs erzählten wir Chase von unserem geheimnisvollen Besucher und dem Notizbuch, das wir in dessen Jackentasche gefunden hatten. Er hielt am Straßenrand, als ich das Notizbuch auf der Seite mit dem Foto aufschlug und es ihm nach vorn reichte.
»Scheiße, ist das ein Drache?« Er sah aus, als wollte er aus dem Auto springen und schreien.
»Chase, deine Beobachtungsgabe ist erstaunlich.« Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich ist das ein Drache. Was dachtest du denn? Ein Gecko?«
Chase warf mir einen ätzenden Blick zu. »Ich habe es mir anders überlegt. Ich mag deine Schwester doch mehr als dich. Sie ist nicht so kratzbürstig.«
»Sie hat mit dir geschlafen«, erwiderte ich schnaubend. »Natürlich magst du sie lieber.«
»He, ich habe Ohren, ihr zwei!«, bemerkte Delilah und wurde rot. Mir ging auf, dass ihre Nonchalance in Beziehung auf Chase vielleicht nur gespielt war – sie hatte diesen verliebten Ausdruck in den Augen. Also lächelte ich sie an, um sie wissen zu lassen, dass ich nur Spaß gemacht hatte.
»Der Typ neben dem Drachen ist auch ein ganz schön großer Brocken«, sagte Chase. »Eine Fee?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Sieht eigentlich nicht so aus, aber das heißt noch gar nichts. Gut möglich, dass er ein Mensch ist.«
»Gut«, sagte er, gab mir das Notizbuch
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