Schwestern des Mondes 02 - Die Katze-09.06.13
aufzudrängen. Sie waren nicht wie die Bäume der nördlichen Wälder und die Blumen auf den weiten Wiesen – Venusfliegenfallen und Kadaverlilien würden einen bei lebendigem Leib auffressen, wenn man in ihrem Schatten verweilte.
Und da war sie – die Abzweigung zu ihrer Höhle. Ich wandte mich nach rechts, schob mich durchs Unterholz und sah vor mir ein schimmerndes Feld aus Licht. Als ich die leuchtende Barriere durchschritt, verschwand der Dschungel hinter mir, und ich fand mich vor einem glitzernden Wasserfall wieder, der von einer Felsenklippe stürzte. Hier gediehen Zeder, Tanne und Ahorn.
Das Wasser fiel tosend in den Fluss darunter, eine weiße Wasserfläche, die schillerte wie Eis; die felsigen Ufer der Schlucht waren mit Schnee bestäubt. Ich hielt inne und fragte mich, wohin ich von hier aus gehen sollte. Ich schnupperte, wobei die Kälte in meiner Lunge nachhallte, und dann erfasste ich sie, ganz schwach im Wind: die Witterung meiner Beute. Die Duftspur führte jenseits des Wasserfalls zu einer geteerten Straße, die sich durch den Wald schlängelte.
Ich folgte ihr und sah mich gründlich um, doch nirgends war jemand zu sehen. Während ich dahintrabte, fielen mir einige Feldwege auf, die in den Wald abzweigten. Der Schnee fühlte sich kalt an, und ich erzitterte mit jeder Pranke, die auf den eisigen Asphalt traf.
Nachdem ich scheinbar stundenlang umhergestreift war, wurde der Geruch nun so stark, dass ich meine Feinde schmecken konnte. Ich öffnete das Maul, ließ die Brise meine Zunge küssen und schmeckte Blut, metallisch und süßlich. Frisches Blut. Sie hatten erst kürzlich etwas erlegt.
Ich bog auf eine der Seitenstraßen ab, doch etwas ließ mich innehalten. Ich blickte auf und entdeckte ein metallenes Hinweisschild, über dem ein goldener Stab hing.
Der Drang zur Eile war jetzt stärker, und ich rannte weiter, immer den Biegungen der unbefestigten Straße nach, die sich zwischen schneeschweren Tannen hindurchwand.
Eine Weggabelung tat sich auf, und ich bog ab. Der Pfad stieg an, auf einer Seite von einem Abhang flankiert, auf der anderen von einer Schlucht. Ich spähte über den Rand. Unten toste ein Bach entlang, in schäumenden Stromschnellen, die mich an die Schneeschmelze an der Tygeria erinnerten – ein Fluss in der Anderwelt, der den schmelzenden Schnee aus den Bergen ins Tiefland trug.
Die schroffen, steilen Wände der Schlucht waren mit dornigen Ranken bewachsen. Winterlich kahl ohne ihre Blätter, zeichneten sich die Dornen vor dem Schnee ab und versprachen jedem, der das Pech hatte, zu Fall zu kommen, eine schmerzhafte Landung. Meine Nase zuckte, und ich wandte mich wieder dem Weg zu und der Spur, die ich verfolgte.
Während ich dahintrottete, ließ der Schneesturm nach, die Wolken teilten sich und ließen den Mond hervorscheinen. Eine Stimme, unerwartet und unbekannt, flüsterte: »Unser Volk hat auf diesem Land gelebt. Wir waren das Volk des Mondes.«
Verblüfft sah ich mich um und entdeckte eine schimmernde Gestalt. Der Mann war nicht groß, aber muskulös und fit, und sein schwarzes Haar war zu zwei langen Zöpfen geflochten, die ihm bis zur Taille reichten. Er trug ein seltsames Gewand, und ich erkannte ihn als Ureinwohner Amerikas. Er war ein Indianer – und obendrein ein Geist.
»Meine Freundin, wohin gehst du?«, fragte er mich.
Ich konnte nicht sprechen – nicht mit Worten –, aber ich sandte ihm ein geistiges Bild, einen Eindruck von dem Geruch, dem ich folgte, und dem Drang zu jagen. Er schien mich zu verstehen, denn er nickte und deutete auf eine Kluft in der Hügelflanke links von mir.
»Dort drin wirst du sie finden, aber du kannst nicht allein zu ihnen gehen, nicht so. Diese abscheulichen Kreaturen besudeln unser Land, deshalb freuen wir uns über deine Hilfe, aber du musst wieder hierherkommen, wenn du dich in deinem Körper befindest. Verstehst du mich, Mädchen? So kannst du ihnen unmöglich gegenübertreten.«
Er sah besorgt aus, und ich überlegte. Ich musste im Astralraum sein, weit entfernt von meinem Körper. Ich reiste nur selten auf diese Art – das war eher etwas für Camille –, aber aus irgendeinem Grund war ich hierher gebracht worden, und ich musste sehen, was ich sehen sollte. Ich beschloss weiterzugehen.
Ich sandte ihm einen wortlosen Dank, den er nickend annahm, und eilte auf die Felsspalte zu. Sie war hoch genug für einen erwachsenen Mann und so breit, dass drei Menschen nebeneinander hineinpassten. Ich zögerte einen Augenblick
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