Schwestern des Mondes 07 - Hexenzorn-09.06.13
genau.
Ich watete durch das hüfthohe Gras, wobei ich die scharfkantigen Blätter beiseiteschieben musste, die mir die nackte Haut aufritzten. Die Mondmutter stieg höher, die Wilde Jagd stand kurz bevor. Ich konnte schon spüren, wie sich die Jäger versammelten.
Als ich mich vor die erste Baiyn-Zypresse kniete und in die Höhlung spähte, schimmerten mir die Knochen eines Pferdes aus dem Dunkel entgegen. Doch das war kein Pferd gewesen. Es war offensichtlich, dass ein Horn von der Stirn abgetrennt worden war. Dies war kein gewöhnlicher Friedhof, sondern die letzte Ruhestätte all der früheren Inkarnationen des Schwarzen Tiers. Acht Bäume mit Hohlräumen - acht Körper im Lauf der Zeitalter. Acht Hörner, von denen alle bis auf drei im Nebel der Zeit verschwunden waren.
Mein Umhang nahm die Schwingung der Bäume auf, und ein leiser Klagelaut erhob sich. Das Horn, eben noch in meiner Tasche, doch nun in meiner Hand, begann zu beben, und ich spürte, wie sich die Kraft darin aufbaute, während der Drang, zu jagen, zu stöbern, zu hetzen, zu schlagen, durch mein Herz strömte.
Langsam stand ich auf und drehte mich um mit dem Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu stehen. Der Vater der Dahns-Einhörner beobachtete mich aufmerksam. Morio glitt lautlos zu mir herüber. Wir standen schweigend und in regloser Erwartung da.
Ein ganzer Reigen von Bildern rauschte auf einmal durch meine Gedanken, und entsetzt versuchte ich sie beiseitezuschieben.
Blut und Schmerz, Kummer und Hunger, Leidenschaft und ein silbernes Feuer, das alles überstrahlte. Die Lust an der Jagd, der Drang, zu zerstören und zu erneuern ...
Der Zyklus der Mondmutter. Sie erhob sich aus der Asche, schwoll zu leuchtender Reife an, und dann nagte die Dunkelheit an ihr, vernichtete sie, und sie schrumpfte zum alten Weib zusammen, führte das Rudel in die Tiefe hinab, um zu ruhen und wiedergeboren zu werden ...
Jungfrau, Mutter, weise Alte, der ewige Kreislauf, und ihr Zyklus war mein Zyklus ebenso wie der Zyklus des Schwarzen Einhorns...
Während ich voller Grauen erkannte, was das Schicksal mit mir vorhatte, stupste das Schwarze Tier mich sacht mit dem Maul an. Ich blickte in die feurigen Augen und schauderte.
»Ich kann ... das ... nicht tun«, flüsterte ich und streichelte seine Nase.
Er schnaubte leise. »Du musst es tun. Die Ewigen Alten haben es so bestimmt. Dieser Zyklus nähert sich dem Ende. Du musst dein Schicksal akzeptieren, und ich das meine.«
»Ich will Euch nicht wehtun.« Tränen rannen mir langsam über die Wangen und zogen helle Spuren durch mein Make-up und den Staub der Reise. Vor lauter Kummer wäre ich am liebsten aus dem Hain geflohen, zurück in die Erdwelt.
»Der Schmerz ist ein Teil der Opferung, die es dem Kreislauf ermöglicht, sich fortzusetzen. Wenn du mir nicht hilfst, wirst du die wahre Macht des Horns niemals begreifen, und meine Herrschaft ginge damit zu Ende. Du hast ebenfalls eine Reise vor dir - dies Opfer wird dich in ein neues Reich führen. Kannst du uns beiden die Zukunft verwehren?«
Morio schnappte nach Luft, und ich sah in seinen Augen, dass auch er begriffen hatte. »Aber weshalb bin ich hier?«
Das Schwarze Tier sah ihn an. »Die Priesterin muss einen Gefährten haben. Ein Priester muss sie bei dem Ritual begleiten. Du verstehst das Wesen der Todesmagie, Yokai. Denn du bist mehr, als du zu sein scheinst, mehr, als du selbst deiner Frau gezeigt hast. Heute Nacht wirst du den Umhang eines Priesters tragen. Und heute Nacht wird sich Camilles Umhang wandeln. Du musst an dieser Verwandlung teilhaben. Ihr seid verbundene Seelen, und nach dieser Nacht werdet ihr auch durch eure Magie untrennbar verbunden sein.«
Immer noch weinend ließ ich mich von dem Schwarzen Tier zur Mitte des Hains stupsen. »Aber warum ich? Warum nicht die Rabenfürstin? Sie ist Eure Gefährtin.«
Er stand hoch aufragend und dunkel vor mir. Dampf stieg aus seinen Nüstern auf, und sein glattes schwarzes Fell schimmerte wie Obsidian. Am liebsten wäre ich schreiend davongelaufen, doch dann schaute ich in seine Augen. Unter Feuer und Schatten fand ich darin auch Mitgefühl, Güte und Verständnis. Wir sahen einander eine scheinbare Ewigkeit an, und ich wünschte, dieser Augenblick würde nie enden. Ich wollte mich in den Tiefen der Zeitalter verlieren, die dieses Geschöpf gesehen hatte.
Doch dann scharrte er mit einem Huf und riss mich mit einem sanften Nasenstüber aus meiner Träumerei. »Es ist an der Zeit, Tochter des Mondes.
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