Schwesternkuss - Roman
gefunden.«
»Ich bin dabei. Geht es Judy besser?«
»Da bin ich mir zu hundert Prozent sicher. Ich bin gegen Mittag bei dir. Dann können wir um eins starten.«
»Und was ist mit deiner Arbeit, dem Schriftsatz?«
»Der Schriftsatz ist reposado. Das ist Spanisch und bedeutet: Er ist gut abgehangen.«
Anthony lachte. » Reposado verwendet man nur für Weine und Tequilas, im Sinne von ›gereift‹.«
»Und genauso fühle ich mich. Bis Mittag.«
»Ich liebe dich«, sagte Anthony, aber Mary hatte ihn schon weggedrückt. Sie verließ ihre Wohnung und hielt ein Taxi an. Vor Mittag stand noch ein weiterer Besuch auf ihrem Plan.
Vor dem Haus ihrer Eltern stieg sie aus dem Taxi, winkte den Nachbarn zu und ging die Haustreppe hoch bis zu der Tür mit dem Fliegengitter, auf der ein großes D aus Aluminium prangte. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte es in ihrem Viertel viele Türen mit einem D gegeben. Sie hatte damals geglaubt, das D bedeute einfach ›Door‹, Tür. Dabei stand es für DiCrecenzo, D’Antonio oder DeJulio. Die Nachbarschaft hatte sich seitdem geändert, doch die DiNunzios waren geblieben. Mary sperrte die Tür zur Wohnung auf.
»Ma, Pa?« Sie legte ihre Handtasche auf einem Stuhl ab und ging in die Küche. Dort hatten sich ihr Vater und ihre drei Lieblingstattergreise, die drei Tonys, versammelt: Tony Lucia, genannt der Täuberich, Tony LoMonaco und Tony Pensiera, genannt die Bohnenstange. Sie alle saßen um einen Tisch herum und ließen sich von der großen Verführerin Fiorella Bucatina verzaubern.
»Maria, Maria!« Ihre Mutter stand am Herd und formte Fleischklößchen. Es roch durchdringend nach Fett.
»Hi, Ma.« Mary küsste sie. Jetzt roch es nach billigem Haarspray. »Ich dachte, ich schaue kurz bei euch vorbei.«
»Lieb, richtig lieb.« Ma gab die Klößchen ins heiße Öl, in dem sie wohlriechend zu brutzeln begannen. »Nach der Kirche kommen alle hierher zum Baseballspiel.«
»Klar«, sagte Mary, aber nichts war klar. Normalerweise sah sich ihr Vater die Spiele allein mit seiner Zigarre an.
»Hallo, meine Kleine!« Ihr Vater schmunzelte. Mary ging zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
»Seid alle gegrüßt.« Sie schenkte jedem in der Runde ein Lächeln, und alle lächelten zurück mit Ausnahme von Fiorella.
»Schön, dich zu sehen, Mary.« Fiorellas Lippen funkelten kirschrot, sie hatte ihren schwarzen Eyeliner frisch aufgemalt und trug heute ein Dekolleté-betonendes schwarzes Kleid. Genau richtig für den Kirchenbesuch, falls dein Name Maria Magdalena war.
»Fiorella, ich bin dran!«, rief ihr Vater und legte seine Hand auf den Tisch. »Jetzt ich!«
»Jetzt du, Mariano.« Fiorella griff nach der Hand ihres Vaters, legte sie in ihre und folgte mit dem weinroten Fingernagel ihres Zeigefingers einer Linie seiner Hand.
»Was ist hier los?«, fragte Mary. Eine rhetorische Frage, denn sie wusste, was da vorging.
»Pssst!« Die Augen von Tony Bohnenstange tanzten hinter den Brillengläsern. Er hatte ein Kartoffelgesicht, und sein Spitzname verriet keineswegs, dass er klein war. »Fiorella kann die Zukunft aus der Hand lesen.«
»Tatsächlich?« Mary sah zu ihrer Mutter, die sich aber weiter den Fleischklößchen widmete.
»Ja, tatsächlich!«, antwortete Bohnenstange. »Ich zum Beispiel werde reich werden. Ich muss nur am Montag auf Willy Nilly im dritten Rennen setzen. Niemand rechnet mit Willy, aber er wird gewinnen.«
Tony LoMonaco wedelte mit einem Plastikbeutel, in dem entweder Salz oder Koks war. »Und meine Prostata wird wieder kleiner werden, wenn ich dieses Zeug in heißem Wasser trinke.«
»Wie schön für euch beide«, sagte Mary und beobachtete Fiorella, wie sie mit ihren Klauen Pas Daumen bearbeitete.
»Mariano«, säuselte Fiorella ihm zu, »das ist deine Herzlinie. Du hast ein gutes, ein wunderbares Herz.«
»Dank Lipitor! Ich habe 203 Cholesterin.«
Bohnenstange stupste ihn mit dem Ellbogen. »Schade, dass du nicht auch so viel wiegst.« Alle lachten, außer Fiorella.
»Mariano, caro , ich habe es nicht so wörtlich gemeint. Deine Herzlinie spricht von deinen Gefühlen, von deiner Liebe.« Fiorella betatschte weiter seine Hand, was den drei Tonys nicht entging. Die taten aber so, als würden sie nicht sehen, was sie da sahen.
» LIEBE ?« Mariano wiederholte das Wort. Mary hatte jetzt genug. Sie zog ihren Vater am Arm hoch und zerrte ihn vom Stuhl.
»Pa, du kommst jetzt mit mir. Ich muss mit dir reden.«
» WARUM ?«, fragte Mariano verdutzt.
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