Schwesternmord
den Ruf des Instituts, doch Dr. Tierney stellte sich hinter ihn. Und dann verschwanden Medikamente aus einer Tasche mit dem persönlichen Besitz eines Verstorbenen, und diesmal hatte er keine Wahl. Er forderte Dr. Hobart auf, seine Kündigung einzureichen.«
»Und was geschah dann?«
»Dr. Hobart fuhr nach Hause und schluckte eine Hand voll Oxycontin. Sie haben ihn erst nach drei Tagen gefunden.« Yoshima schwieg einen Moment. »Um diese Autopsie hat sich niemand hier im Haus gerissen.«
»Gab es Zweifel an seiner fachlichen Kompetenz?«
»Mag sein, dass ihm ein paar Fehler unterlaufen sind.«
»Schwere Fehler?«
»Ich bin mir nicht sicher, was Sie damit meinen.«
»Ich frage mich, ob er das hier übersehen haben könnte.« Sie deutete auf das Röntgenbild. Auf den hellen Splitter im Schambein. »Sein Bericht über Nikki Wells erklärt nicht diese metallische Verdichtung hier.«
»Es gibt noch weitere metallische Schatten auf dieser Aufnahme«, stellte Yoshima fest. »Ich kann hier einen BH-Verschluss erkennen. Und das hier sieht wie ein Druckknopf aus.«
»Ja, aber sehen Sie sich mal die laterale Ansicht an. Dieser Metallsplitter steckt im Knochen. Nicht darüber. Hat Dr. Hobart Ihnen gegenüber etwas darüber gesagt?«
»Nein, soweit ich mich erinnern kann. Steht nichts davon in seinem Bericht?«
»Nein.«
»Dann hat er es wohl für nicht so wichtig gehalten.«
Was bedeutete, dass es wahrscheinlich bei Amalthea Lanks Prozess nicht zur Sprache gekommen war. Yoshima wandte sich wieder seinen Vorbereitungen zu, stellte Schalen
und Eimer bereit, arrangierte Formulare auf seinem Klemmbrett. Obwohl nur wenige Schritte entfernt eine tote junge Frau lag, galt Mauras Aufmerksamkeit nicht ihrer Leiche, sondern nur der Röntgenaufnahme von Nikki Wells und ihrem ungeborenen Kind, die das Feuer zu einer einzigen verkohlten Masse verschmolzen hatte.
Warum hast du sie verbrannt? Was hast du damit bezweckt? Hatte Amalthea Lust verspürt, als sie zusah, wie die Flammen die Leichen verzehrten? Oder hatte sie gehofft, dass diese Flammen etwas anderes vernichten würden, irgendeine Spur von ihr, die nicht gefunden werden sollte?
Ihr Blick wanderte von der Schädelwölbung des Fetus zu dem hellen Splitter in Nikkis Schambein. Ein Splitter, so dünn wie …
Eine Messerklinge. Die abgebrochene Spitze einer Klinge.
Aber Nikki war durch einen Schlag auf den Kopf getötet worden. Warum ein Opfer mit dem Messer attackieren, nachdem man ihm gerade mit einer Eisenstange den Schädel eingeschlagen hat? Sie starrte diesen Metallsplitter an, und schlagartig wurde ihr seine Bedeutung klar – eine Erkenntnis, die ihr einen eisigen Schauer über den Rücken jagte.
Sie ging zum Telefon und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Louise?«
»Ja, Dr. Isles?«
»Können Sie mich bitte mit Dr. Daljeet Singh verbinden? Rechtsmedizinisches Institut in Augusta, Maine.«
»Einen Augenblick.« Und kurze Zeit später: »Ich habe Dr. Singh in der Leitung.«
»Daljeet?«, sagte Maura.
»Nein, ich habe das Essen, das ich Ihnen schulde, nicht vergessen!«, erwiderte er.
»Vielleicht schulde ich bald Ihnen ein Essen, wenn Sie mir diese Frage beantworten können.«
»Welche Frage?«
»Diese Skelettreste, die wir in Fox Harbor ausgegraben haben – haben Sie die schon identifiziert?«
»Nein. Das könnte noch eine Weile dauern. Weder in Waldo noch in Hancock County liegen Vermisstenmeldungen vor, die zu diesen Überresten passen könnten. Entweder sind diese Knochen sehr alt, oder die Leute waren nicht aus der Gegend.«
»Haben Sie schon eine NCIC-Suche beantragt?«, fragte sie. Das vom FBI verwaltete National Crime Information Center unterhielt eine Datenbank, in der Fälle von vermissten Personen aus dem ganzen Land gesammelt wurden.
»Ja, aber da ich die Suche nicht auf ein bestimmtes Jahrzehnt einschränken kann, hat das System mir seitenweise Namen ausgespuckt. Sämtliche aktenkundigen Fälle aus dem Bereich Neuengland.«
»Vielleicht kann ich Ihnen helfen, die Suchkriterien einzuengen.«
»Wie?«
»Geben Sie nur die Vermisstenmeldungen aus den Jahren 1955 bis 1965 ein.«
»Dürfte ich fragen, wie Sie gerade auf diese Dekade kommen?«
Weil das die Zeit ist, in der meine Mutter in Fox Harbor gelebt hat, dachte sie. Meine Mutter, die noch mehr Menschen ermordet hat.
Aber was sie sagte, war nur: »Es ist nur eine Vermutung, doch ich habe meine Gründe.«
»Sie sprechen in Rätseln.«
»Ich werde Ihnen alles erklären,
Weitere Kostenlose Bücher