Schwesternmord
dem Stuhl gesessen hatte. Vielleicht ein wenig besorgt wegen eines Lochs im Zahn, das den Einsatz des Bohrers wohl unvermeidlich machte. Als sie auf den Pappstreifen gebissen hatte, damit der unbelichtete Film nicht verrutschte, konnte sie nicht geahnt haben, dass die Aufnahme, die ihr Zahnarzt an diesem Tag machte, eines Tages auf dem Computerbildschirm eines Pathologen aufleuchten würde.
Maura sah eine Reihe von Backenzähnen und das helle Schimmern einer Metallkrone. Sie ging hinüber zum Leuchtkasten, an den Daljeet das von ihm angefertigte Pantomogramm des Gebisses der unidentifizierten Toten geklemmt
hatte. Leise sagte sie: »Das ist sie. Diese Knochen gehörten Karen Sadler.«
»Dann hätten wir sie also beide identifiziert«, sagte Daljeet. »Ein Ehepaar.«
Hinter ihnen blätterte Rizzoli immer noch den Computerausdruck durch, nun auf der Suche nach Karen Sadlers Vermisstenanzeige. »Okay, da haben wir sie. Weiß, weiblich, Alter fünfundzwanzig. Blondes Haar, blaue Augen …« Sie brach unvermittelt ab. »Da stimmt etwas nicht. Sie sollten sich die Röntgenaufnahmen noch einmal ganz genau ansehen.«
»Wieso?«, fragte Maura.
»Sehen Sie einfach noch mal nach.«
Maura studierte das Pantomogramm noch einmal eingehend und verglich es dann mit dem Bild auf dem Computermonitor. »Sie stimmen überein, Jane. Wo liegt das Problem?«
»Da fehlt noch ein Skelett.«
»Wessen Skelett?«
»Das eines Fetus.« Rizzoli sah sie an; ihre Miene verriet Fassungslosigkeit. »Karen Sadler war im achten Monat schwanger.«
Es war lange still.
»Wir haben keine anderen Überreste gefunden«, sagte Daljeet schließlich.
»Vielleicht haben Sie sie übersehen«, entgegnete Rizzoli.
»Wir haben das ganze Erdreich durchsiebt. Wir sind so gründlich vorgegangen wie bei einer archäologischen Ausgrabung.«
»Die Knochen könnten von wilden Tieren verschleppt worden sein.«
»Ja, diese Möglichkeit besteht immer. Aber das da ist Karen Sadler.«
Maura ging zum Tisch und betrachtete das Becken der Frau. Sie dachte an die Knochen einer anderen Frau, die sie
auf einer Röntgenaufnahme hatte aufleuchten sehen. Nikki Wells war auch schwanger.
Sie schob den Schwenkarm mit dem Vergrößerungsglas über den Tisch und schaltete die Lampe ein. Dann richtete sie die Linse genau auf das Schambein aus. Die Symphyse, wo die beiden Schambeinäste sich trafen und durch Knorpelgewebe verbunden waren, war mit rötlicher Erde verkrustet. »Daljeet, könnte ich bitte ein feuchtes Wattestäbchen oder einen Mulltupfer haben? Irgendwas, womit ich diesen Schmutz entfernen kann.«
Er füllte Wasser in eine Schale, riss eine Packung Q-Tips auf und stellte beides auf ein Tablett am Tisch. »Wonach suchen Sie?«
Sie gab keine Antwort. Zu sehr war sie darauf konzentriert, die Erdschicht abzuwischen und das, was sich darunter verbarg, freizulegen. Während die Kruste dahinschmolz, ging ihr Puls immer schneller. Plötzlich fiel auch der letzte Krümel ab, und sie starrte gebannt durch die Lupe. Dann richtete sie sich auf und sah Daljeet an.
»Was ist es?«, fragte er.
»Sehen Sie selbst. Es ist direkt an der Fuge, wo die Knochen aufeinander stoßen.«
Er beugte sich über das Vergrößerungsglas. »Sie sprechen von dieser kleinen Kerbe? Haben Sie die gemeint?«
»Ja.«
»Sie ist kaum zu erkennen.«
»Aber sie ist da.« Sie holte tief Luft. »Ich habe eine Röntgenaufnahme mitgebracht. Sie ist in meinem Wagen. Die sollten Sie sich mal ansehen.«
Regen prasselte auf ihren Schirm, als sie hinaus auf den Parkplatz ging. Sie drückte auf den Knopf an ihrem Schlüsselbund, um die Zentralverriegelung zu öffnen, und dabei fiel ihr Blick unweigerlich auf die Schrammen im Lack der Beifahrertür. Eine Kratzspur wie von Krallen, die ihr Angst einjagen sollte. Aber du hast damit nur erreicht, dass ich voller Wut bin. Bereit, zurückzuschlagen . Sie nahm den
Umschlag vom Rücksitz und steckte ihn unter ihre Jacke, um ihn vor dem Regen zu schützen, als sie zum Haus zurückging.
Daljeet sah verwundert zu, wie sie Nikki Wells’ Röntgenaufnahmen an den Leuchtkasten steckte. »Was ist das für ein Fall, den Sie mir zeigen wollen?«
»Ein Mord, der sich vor fünf Jahren in Fitchburg, Massachusetts, ereignet hat. Das Opfer wurde durch einen Schlag auf den Kopf getötet und später verbrannt.«
Daljeet betrachtete stirnrunzelnd die Röntgenaufnahme. »Eine schwangere Frau. Offenbar kurz vor dem Geburtstermin.«
»Aber was mich so stutzig gemacht hat, ist das
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