Schwesternmord
Sie dann auch hier?«
»Ja, das wäre ich.« Er beugte sich zu ihr vor; immer noch hielt er ihre Hände. »Das weiß ich ganz bestimmt.«
Eine Weile saßen sie schweigend da. Ich will ihm glauben, dachte sie. Es wäre so leicht, ihm einfach zu glauben.
Doch dann sagte sie: »Ich glaube nicht, dass Sie heute Nacht hier bleiben sollten.«
Zögernd richtete er sich auf. Seine Augen waren immer noch auf sie gerichtet, aber jetzt war da plötzlich eine Distanz zwischen ihnen. Und ein Gefühl der Enttäuschung.
Sie stand auf, und er tat es ihr gleich.
Schweigend gingen sie zur Haustür. Dort wandte er sich zu ihr um. Er hob die Hand und strich ihr zärtlich über die Wange, und sie wich seiner Berührung nicht aus.
»Passen Sie gut auf sich auf«, sagte er und ging hinaus.
Sie schloss die Tür hinter ihm ab.
29
Mattie aß den letzten Streifen Trockenfleisch. Sie nagte daran wie ein wildes Tier, das sich an einem vertrockneten Kadaver gütlich tut, und sie dachte dabei: Protein gibt Kraft. Protein für den Sieg! Sie dachte an Sportler, die sich auf Marathonläufe vorbereiteten, ihren Körper auf Höchstleistung trimmten für den Auftritt ihres Lebens. Das würde auch ein Marathon werden. Ihre einzige Chance auf den Sieg.
Wenn du verlierst, bist du tot.
Das Trockenfleisch war wie Leder und blieb ihr beinahe im Hals stecken, doch mit einem Schluck Wasser rutschte es schließlich hinunter. Der zweite Krug war fast leer. Meine Vorräte gehen zur Neige, dachte sie; ich kann nicht mehr allzu lange durchhalten. Und jetzt kam noch eine neue Sorge dazu: Ihre Wehen wurden allmählich unangenehm; wie eine Faust, die sich in ihr ballte. Man konnte es noch nicht als Schmerzen bezeichnen, aber es war ein Vorbote dessen, was sie erwartete.
Wo war er, zum Teufel? Warum ließ er sie so lange allein? Da sie keine Uhr hatte, wusste sie nicht, ob seit seinem letzten Besuch Stunden oder Tage vergangen waren. Sie fragte sich, ob sie ihn wohl wütend gemacht hatte, als sie ihn angeschrien hatte. War das jetzt die Strafe? Versuchte er ihr Angst zu machen, um ihr auf diese Weise beizubringen, dass er von ihr Höflichkeit und ein wenig Respekt erwartete? Ihr ganzes Leben lang war sie immer höflich gewesen, und das hatte sie nun davon. Höfliche Mädchen wurden nur herumgeschubst. Sie wurden in die hinterste Reihe gedrängt, wo niemand sie beachtete. Und sie bekamen die Sorte Männer ab, die nach der Hochzeit prompt vergaßen, dass sie überhaupt existierten. Also, ich bin jedenfalls lange genug höflich
gewesen, dachte sie. Wenn ich jemals lebend hier rauskomme, werde ich mir nicht mehr alles bieten lassen.
Aber zuerst muss ich hier rauskommen. Und das bedeutet, dass ich vorerst noch höflich tun muss.
Sie nahm einen weiteren kleinen Schluck Wasser. Und fühlte sich erstaunlich gesättigt und gestärkt, als hätte sie gerade ein Festmahl verspeist und dazu Wein getrunken. Nur Geduld, dachte sie. Irgendwann wird er schon kommen.
Sie zog sich die Decke um die Schultern und schloss die Augen.
Und erwachte, als eine neue Wehe sie schüttelte. O nein, dachte sie, das tut jetzt wirklich weh. Das tut verdammt weh. Schwitzend lag sie in der Dunkelheit und versuchte krampfhaft, sich an ihren Geburtsvorbereitungskurs zu erinnern. Doch das schien ein halbes Leben her zu sein. Eine Episode aus dem Leben einer anderen Frau.
Einatmen, ausatmen. Ganz ruhig und entspannt …
»Lady …«
Sie wurde stocksteif. Blickte hinauf in die Dunkelheit, zu dem Luftgitter, aus dem das Flüstern gekommen war. Ihr Puls hämmerte. Zeit zu handeln, GI Jane. Aber dann, umgeben von Finsternis, in der Nase den Geruch ihrer eigenen Angst, dachte sie wieder: Nein, ich bin noch nicht so weit. Ich werde nie so weit sein. Wieso habe ich je geglaubt, ich könnte das fertig bringen?
»Lady. Reden Sie mit mir.«
Das ist deine einzige Chance. Tu es.
Sie holte tief Luft. »Ich brauche Hilfe«, wimmerte sie.
»Wieso?«
»Mein Baby …«
»Was? Sagen Sie’s schon!«
»Es kommt jeden Moment. Ich habe Schmerzen. Oh, bitte, lassen Sie mich raus! Ich weiß nicht, wie lange es noch …« Sie schluchzte. »Lassen Sie mich raus. Ich muss hier raus. Mein Baby kommt.«
Die Stimme schwieg.
Sie schmiegte sich an die Wolldecke, wagte kaum zu atmen, aus Angst, sein leises Flüstern zu überhören. Warum antwortete er nicht? War er wieder gegangen? Dann hörte sie einen dumpfen Schlag und ein Kratzen.
Eine Schaufel. Er hatte angefangen, zu graben.
Eine Chance, dachte sie. Ich
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