Schwesternmord
sie schärfte im Gegenteil die Sinne, machte sie flink wie eine Gazelle. In dem Sekundenbruchteil, nachdem sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, registrierte sie ein Dutzend Details gleichzeitig. Die Mondsichel, die zwischen Ästen hervorschimmerte. Den Geruch von Erde und feuchtem Laub. Und Bäume, überall Bäume, die sie umringten wie riesenhafte Wächter und nur eine kleine Kuppel des Sternenhimmels hoch über ihr frei ließen. Ich bin in einem Wald . Mit einem Blick erfasste sie all das, traf in Sekundenschnelle ihre Entscheidung und sprintete los, auf eine Stelle zu, die nach einer Lücke zwischen den Bäumen aussah. Ehe sie recht wusste, wie ihr geschah, stürzte sie eine steile Böschung hinunter, brach in vollem Lauf durch Dornengestrüpp und streifte junge Bäume, deren dünne Äste nicht abknickten, sondern sie wie Peitschen ins Gesicht schlugen.
Sie landete auf allen vieren. Im nächsten Moment hatte sie sich wieder aufgerappelt und rannte weiter, doch sie humpelte nun; ein pochender Schmerz durchzuckte ihren Knöchel. Ich mache zu viel Lärm, dachte sie; ich bin lauter als ein Elefant, der durch den Urwald trampelt! Nicht stehen bleiben, nicht stehen bleiben – er könnte direkt hinter dir sein. Lauf weiter, lauf!
Aber sie war blind in diesem Wald, wo nur die Sterne und dieses erbärmliche Fitzelchen Mond ihr den Weg weisen konnten. Kein Licht, keine Orientierungspunkte. Keine Ahnung, wo sie war oder in welche Richtung sie laufen musste, um Hilfe zu finden. Sie wusste nichts über diesen Ort und war so verloren, als ob sie in einem Albtraum umherirrte. Mühsam bahnte sie sich ihren Weg durchs Unterholz und ging dabei instinktiv immer bergab, ließ die Schwerkraft darüber entscheiden, welche Richtung sie einschlug. Vom Berg gelangt man irgendwann ins Tal. Durch Täler fließen Flüsse, und wo ein Fluss ist, sind auch Menschen. O Gott, es klang fantastisch, aber stimmte es auch? Ihre Knie wurden allmählich steif, eine Folge ihres Sturzes. Wenn sie noch einmal stolperte, würde sie vielleicht gar nicht mehr gehen können.
Und jetzt erfasste ein anderer Schmerz sie. Er zwang sie innezuhalten, verschlug ihr den Atem. Eine Wehe. Sie krümmte sich, konnte nur abwarten, bis es vorbei war. Als sie sich endlich wieder aufrichten konnte, war sie schweißgebadet.
Hinter ihr raschelte etwas. Sie wirbelte herum und blickte auf eine undurchdringliche schwarze Wand. Doch sie spürte das Böse, fühlte, wie es näher rückte. In der nächsten Sekunde floh sie schon wieder in heller Panik, ohne auf die Zweige zu achten, die ihr das Gesicht zerkratzten. Schneller! Schneller!
Im abschüssigen Gelände glitt sie aus und kam ins Straucheln, und sie wäre mit dem Bauch voran hingefallen, wenn sie nicht einen jungen Baum zu fassen bekommen hätte.
Armes Baby, fast wäre ich auf dir gelandet! Sie konnte ihren Verfolger nicht hören, doch sie wusste, dass er unmittelbar hinter ihr sein musste. Die Angst trieb sie immer weiter, durch ein Dickicht aus ineinander greifenden Ästen und Zweigen.
Und dann waren die Bäume urplötzlich verschwunden. Sie brach ein letztes Mal durch ein Gewirr von Ranken, und ihre Füße landeten auf hart gewalzter Erde. Wie vor den Kopf geschlagen stand sie da, rang nach Luft und starrte auf eine gekräuselte Fläche, in der sich das Mondlicht spiegelte. Ein See. Eine Straße.
Und im Hintergrund, an der Spitze einer Landzunge, die Umrisse einer kleinen Hütte.
Sie ging ein paar Schritte und blieb stöhnend stehen, als eine neue Wehe sie mit eiserner Faust packte; so fest, dass es ihr den Atem raubte und sie nur hilflos dort auf der Straße kauern konnte. Übelkeit stieg in ihr auf, sie musste würgen. Sie hörte die Wellen ans Ufer schlagen, irgendwo auf dem See schrie ein Vogel. Schwindel erfasste sie, drohte sie in die Knie zu zwingen. Nicht hier! Bleib nicht hier auf der Straße stehen, wo er dich schon von weitem sehen kann.
Sie wankte vorwärts, als die Kontraktion langsam schwächer wurde. Zwang sich weiterzugehen, auf die Hütte zu, eine vage Hoffnung. Dann begann sie zu laufen. Ein stechender Schmerz durchzuckte jedes Mal ihr Knie, wenn ihre Sohle auf dem harten Belag der Straße landete. Schneller, dachte sie. Er kann dich sehen, vor dem hellen See. Lauf, sonst holt dich die nächste Wehe ein. Wie viele Minuten noch bis zur nächsten? Fünf, zehn? Die Hütte schien noch so weit weg.
Sie gab jetzt das Letzte; ihre Beine liefen wie von selbst, ihre Lungen arbeiteten wie
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