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Schwesternmord

Schwesternmord

Titel: Schwesternmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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habe nur diese eine Chance.
    Wieder dumpfe Schläge. Die Schaufel bewegte sich jetzt in längeren Bahnen, und das schürfende Geräusch, wenn das Blatt sich in die Erde grub und sie aushob, tönte in ihren Ohren wie das Quietschen von Kreide auf einer Schiefertafel. Ihr Atem ging schneller, ihr Herz schlug wie wild in ihrer Brust. Entweder komme ich davon, oder ich sterbe, dachte sie. Jetzt entscheidet sich alles.
    Das schürfende Geräusch verstummte.
    Ihre Hände waren wie Eis, die Finger, mit denen sie sich die Decke um die Schultern zog, kalt und klamm. Sie hörte das Holz knarren, dann ein Quietschen wie von Scharnieren. Erde rieselte in ihr Gefängnis herab, fiel ihr in die Augen. O Gott, o Gott, ich werde nichts sehen können. Ich muss sehen können! Sie wandte sich ab, um ihr Gesicht vor den Erdkrümeln zu schützen, die auf ihren Kopf niederregneten, und blinzelte mehrmals, um ihre Augen von dem körnigen Staub zu befreien. So, mit gesenktem Kopf, konnte sie ihn nicht über ihr stehen sehen. Und was sah er, wenn er in die Grube blickte? Seine Gefangene, in eine Decke verkrochen, verdreckt und ausgemergelt, am Ende ihrer Kräfte. Von Geburtswehen geschüttelt.
    »Zeit, herauszukommen«, sagte er. Diesmal nicht durch ein Gitter. Eine ruhige Stimme, vollkommen gewöhnlich. Wie konnte das Böse so normal klingen?
    »Helfen Sie mir.« Sie schluchzte auf. »Ich komme da nicht allein raus.«
    Sie hörte ein knirschendes Geräusch wie von Holz auf Holz und spürte, wie etwas neben ihr aufschlug. Eine Leiter. Sie schlug die Augen auf und sah nur eine Silhouette vor dem Hintergrund der Sterne. Nach der totalen Finsternis
ihres Gefängnisses erschien ihr der Nachthimmel wie von Licht durchflutet.
    Er schaltete eine Taschenlampe ein und leuchtete damit die Sprossen an. »Es sind nur ein paar Sprossen«, sagte er.
    »Aber es tut so weh.«
    »Ich halte Ihre Hand. Aber Sie müssen auf die Leiter steigen.«
    Sie schniefte und begann sich langsam aufzurappeln. Einen Moment lang blieb sie schwankend stehen, dann sank sie wieder auf die Knie. Sie hatte seit Tagen nicht mehr gestanden, und jetzt registrierte sie geschockt, wie geschwächt sie trotz all ihrer Übungen war, trotz des Adrenalins, das nun durch ihre Adern strömte.
    »Wenn Sie raus wollen«, sagte er, »müssen Sie schon aufstehen.«
    Sie stöhnte und richtete sich erneut auf, mit zitternden Knien, unsicher wie ein neugeborenes Kalb. Ihre rechte Hand steckte immer noch unter der Decke, raffte sie vor ihrer Brust zusammen. Mit der Linken griff sie nach der Leiter.
    »So ist’s gut. Und jetzt steigen Sie rauf.«
    Sie setzte den Fuß auf die unterste Sprosse und wartete, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, ehe sie mit der freien Hand die nächste Sprosse packte. Dann zog sie den Fuß nach. Die Grube war nicht sehr tief; nur noch ein paar Sprossen, und sie würde draußen sein. Schon jetzt war ihr Kopf auf einer Höhe mit seiner Taille.
    »Helfen Sie mir«, flehte sie. »Ziehen Sie mich hoch.«
    »Lassen Sie die Decke los.«
    »Mir ist aber so kalt! Bitte, ziehen Sie mich hoch!«
    Er legte seine Taschenlampe auf die Erde. »Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte er und beugte sich vor, ein gesichtsloser Schatten, der seinen Fangarm nach ihr ausstreckte.
    Das reicht. Jetzt ist er nahe genug.
    Sein Kopf war jetzt direkt über ihrem. Einen Sekundenbruchteil zögerte sie noch, scheute zurück vor dem, was sie vorhatte.

    »Stehlen Sie mir nicht meine Zeit«, herrschte er sie an. »Nun machen Sie schon!«
    Plötzlich war es Dwaynes Gesicht, das sie vor Augen hatte. Dwaynes Stimme, die sie ausschimpfte, die sie mit Spott und Hohn überschüttete. Das Image ist alles, Mattie – schau dich doch bloß mal an. Mattie, die fette Kuh, wie sie sich an die Leiter klammerte und davor zurückschreckte, sich zu retten. Ihr Baby zu retten. Du bist einfach nicht mehr gut genug für mich.
    O doch. O DOCH, DAS BIN ICH!
    Sie ließ die Decke los. Sie glitt ihr von den Schultern und gab den Blick auf das frei, was sie die ganze Zeit darunter in der Hand gehalten hatte: Ihre Socke, prall gefüllt mit den acht Taschenlampenbatterien. Sie hob den Arm, schwang die Socke wie eine Keule, getrieben von rasender Wut. Ungestüm, unbeholfen schlug sie zu, doch dann spürte sie das satte Krachen, als die Batterien seinen Schädel trafen.
    Der Schatten taumelte seitwärts und kippte weg.
    Binnen Sekunden hatte sie die Leiter erklommen und krabbelte aus der Grube. Die Todesangst lähmte sie nicht;

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