Schwesternmord
glitzernden Windungen der grauen Substanz betrachtete. Das ABC aus der Grundschulzeit. Vier mal vier ist sechzehn. Der erste Kuss, der erste Freund, der erste Liebeskummer. Alles in Strängen von Boten-RNA in dieser komplexen Ansammlung von Neuronen niedergelegt. Die Erinnerung ist nur ein biochemischer Prozess, und doch macht sie die Individualität jedes einzelnen Menschen aus.
Mit ein paar raschen Skalpellschnitten löste Abe das Gehirn heraus und trug es in beiden Händen wie einen kostbaren
Schatz zur Arbeitsplatte. Er würde es heute nicht mehr sezieren, sondern es in Fixiermittel einlegen, um es später zu zerlegen. Aber er brauchte keine mikroskopische Untersuchung, um die Spuren des Traumas zu erkennen; die blutige Verfärbung an der Oberfläche war nicht zu übersehen.
»Wir haben also die Einschussverletzung hier in der linken Schläfe«, sagte Rizzoli.
»Ja, und das Loch in der Haut deckt sich genau mit dem im Schädelknochen«, fügte Abe hinzu.
»Das steht im Einklang mit einem horizontalen Schuss in die Schläfe.«
Abe nickte. »Der Täter hat vermutlich aus kurzer Entfernung durch das Fahrerfenster gezielt. Und die Scheibe war heruntergedreht, so dass die Schussbahn nicht durch das Glas abgefälscht wurde.«
»Sie sitzt also da in ihrem Wagen«, sagte Rizzoli. »Es ist ein warmer Abend. Sie hat das Fenster offen. Acht Uhr, es wird schon dunkel. Und dann kommt er auf den Wagen zu. Zielt und drückt einfach ab.« Rizzoli schüttelte den Kopf. »Warum?«
»Die Handtasche hat er liegen lassen«, stellte Abe fest.
»Also kein Raubmord«, meinte Frost.
»Bleibt nur ein Verbrechen aus Leidenschaft. Oder ein Auftragsmord.« Rizzoli sah Maura an. Da war sie wieder – die Möglichkeit einer gezielten Tötung, einer Hinrichtung.
Hat er die Richtige erwischt?
Abe legte das Gehirn in einen Eimer mit Formalin. »So weit keine großen Überraschungen«, sagte er, während er sich wieder der Leiche zuwandte, um mit der Sektion des Halses fortzufahren.
»Werden Sie auch auf giftige Substanzen testen?«, fragte Rizzoli.
Abe zuckte mit den Achseln. »Wir können Proben einsenden, aber ich bin mir nicht sicher, ob das nötig ist. Die Todesursache liegt ja offen zutage.« Er wies mit dem Kopf auf den Leuchtkasten, wo sich die Umrisse des Geschosses
deutlich vom Schattenbild des Schädels abhoben. »Haben Sie einen bestimmten Grund, weshalb Sie ein Toxikologie-Screening wünschen? Hat die Spurensicherung Drogen oder verdächtige Utensilien im Wagen gefunden?«
»Nein. Das Auto war ziemlich sauber. Bis auf das Blut, meine ich.«
»Und das stammt ausschließlich vom Opfer?«
»Es ist jedenfalls alles B positiv.«
Abe wandte sich an Yoshima. »Haben Sie bei unserem Opfer schon die Blutgruppe bestimmt?«
Yoshima nickte. »Es passt. Sie ist B positiv.«
Niemand sah Maura an. Niemand sah, wie sie zurückzuckte, niemand hörte, wie sie erschrocken nach Luft schnappte. Abrupt wandte sie sich ab, damit die anderen ihr Gesicht nicht sehen konnten, und band ihre Maske los, riss sie sich mit einem Ruck vom Mund.
Als sie zum Abfalleimer ging, rief Abe ihr zu: »Langweilen wir dich etwa schon, Maura?«
»Der Jetlag holt mich allmählich ein«, sagte sie, während sie den Kittel abstreifte. »Ich glaube, ich mache heute früher Schluss. Wir sehen uns dann morgen, Abe.«
Dann flüchtete sie aus dem Saal, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Die ganze Heimfahrt über war sie wie in Trance. Erst als sie die Außenbezirke von Brookline erreichte, löste sich schlagartig die Sperre in ihrem Kopf. Erst jetzt gelang es ihr, aus dem Teufelskreis zwanghafter Gedanken auszubrechen, die ihr durch den Kopf wirbelten. Denk nicht an die Autopsie. Schlag sie dir aus dem Kopf. Denk ans Abendessen, denk an alles Mögliche, nur nicht an das, was du heute gesehen hast.
Vor dem Supermarkt hielt sie an. Ihr Kühlschrank war leer, und wenn sie sich heute Abend nicht von Thunfisch und tiefgefrorenen Erbsen ernähren wollte, dann musste sie etwas einkaufen. Es war eine Wohltat, sich auf etwas ganz anderes konzentrieren zu können. Wie eine Besessene warf
sie einen Artikel nach dem anderen in ihren Einkaufswagen. Es war viel ungefährlicher, sich Gedanken über das Essen zu machen; zu planen, was sie in den nächsten Tagen kochen würde. Hör auf, über Blutflecken und Organe von toten Frauen in Stahlschüsseln nachzudenken. Ich brauche Pampelmusen und Äpfel. Und diese Auberginen – sehen die nicht prächtig aus? Sie griff nach einem
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