Schwesternmord
hinterrücks aufs Bett fallen und streckte beide Arme aus, wie ein Vogel im Flug. Sie konnte Gabriels Duft noch in den Laken riechen. Heute Abend fehlst du mir, dachte sie. So hatten sie sich die Ehe nicht vorgestellt. Zwei Karrieren, zwei Workaholics. Gabriel unterwegs im Außendienst, sie allein in der Wohnung. Aber sie hatte gewusst, dass es nicht einfach sein würde, als sie sich zu dem Schritt entschlossen hatte. Dass es zu viele Abende und Nächte wie diese geben würde, in denen sie wegen seines oder auch wegen ihres Jobs nicht zusammen sein konnten. Sie spielte
mit dem Gedanken, ihn wieder anzurufen, aber sie hatten heute Morgen schon zweimal telefoniert, und die Telefonrechnung verschlang auch so schon einen allzu großen Batzen ihres Einkommens.
Ach, was soll’s.
Sie wälzte sich auf die Seite, stieß sich von der Matratze hoch und wollte gerade nach dem Telefon auf dem Nachttisch greifen, als es plötzlich läutete. Verblüfft warf sie einen Blick auf das Display mit der Anruferkennung. Eine unbekannte Nummer – es war jedenfalls nicht Gabriel.
Sie hob den Hörer ab. »Hallo?«
»Detective Rizzoli?«, fragte eine Männerstimme.
»Ja, am Apparat.«
»Entschuldigen Sie bitte die späte Störung. Ich bin erst heute Abend von einer Reise zurückgekommen, und …«
»Mit wem spreche ich, bitte?«
»Detective Ballard, Newton PD. Man hat mir gesagt, Sie seien die leitende Ermittlerin in dem Mordfall, der sich gestern Abend in Brookline ereignet hat. Das Opfer ist eine gewisse Anna Jessop.«
»Ja, das ist mein Fall.«
»Letztes Jahr hatte ich hier bei uns einen Fall zu bearbeiten, bei dem es ebenfalls um eine Frau namens Anna Jessop ging. Ich weiß nicht, ob es sich um dieselbe Person handelt, aber …«
»Sie sagten, Sie sind vom Department Newton?«
»Ja.«
»Könnten Sie Ms. Jessop identifizieren? Wenn Sie die Leiche zu Gesicht bekämen?«
Eine Pause. »Ich glaube, ich muss sie sehen. Ich muss sicher sein, dass sie es ist.«
»Und wenn sie es ist?«
»Dann weiß ich, wer sie getötet hat.«
Noch bevor Detective Rick Ballard seinen Dienstausweis gezückt hatte, war Rizzoli klar, dass er nur ein Cop sein
konnte. Als sie den Empfangsbereich des Rechtsmedizinischen Instituts betrat, sprang er sofort auf, als wollte er vor ihr strammstehen. Der Blick seiner kristallblauen Augen war direkt, sein braunes Haar kurz geschnitten und konservativ gescheitelt, sein Hemd mit militärischer Präzision gebügelt. Er strahlte die gleiche ruhige Autorität aus wie Gabriel, und seine grundsolide Miene schien zu sagen: Wenn’s drauf ankommt, können Sie auf mich zählen. Für einen kurzen Moment erweckte er in ihr den Wunsch, wieder gertenschlank und attraktiv zu sein. Sie gaben sich die Hand, und während sie seinen Dienstausweis in Augenschein nahm, spürte sie, wie er sie beäugte.
Hundertprozentig ein Cop, dachte sie.
»Sind Sie bereit, sich das anzutun?«, fragte sie. Als er nickte, wandte sie sich an die Frau am Empfang. »Ist Dr. Bristol unten?«
»Er ist noch mit einer Autopsie beschäftigt, aber er sagte, Sie können schon mal runtergehen.«
Sie fuhren mit dem Lift ins Kellergeschoss und betraten den Vorraum des Autopsiesaals, wo in Wandschränken Überschuhe, Masken und Papierhauben bereitlagen. Durch das große Sichtfenster konnten sie einen Blick in den Saal werfen, in dem Dr. Bristol und Yoshima an der Leiche eines hageren, grauhaarigen Mannes arbeiteten. Bristol erblickte sie durch die Scheibe und winkte ihnen zur Begrüßung zu. »Noch zehn Minuten!«, sagte er.
Rizzoli nickte. »Wir warten solange.«
Bristol hatte gerade die Kopfhaut eingeschnitten. Jetzt zog er sie über den Schädel nach vorn, so dass das Gesicht sich in Falten legte.
»Diesen Teil hasse ich wie die Pest«, sagte Rizzoli. »Wenn sie anfangen, das Gesicht so zuzurichten. Mit dem Rest habe ich keine Probleme.«
Ballard erwiderte nichts. Sie sah ihn an und bemerkte, dass er sich plötzlich ganz steif hielt und eine stoische, grimmig entschlossene Miene aufgesetzt hatte. Da er nicht bei
der Mordkommission war, führte sein Weg ihn vermutlich eher selten in die Rechtsmedizin, und die Prozedur, die sich in diesem Moment auf der anderen Seite des Fensters abspielte, musste ihm gewiss entsetzlich vorkommen. Sie erinnerte sich noch an ihren allerersten Besuch hier als Polizeischülerin. Sie war mit einer Gruppe von der Akademie gekommen, als einzige Frau unter einem halben Dutzend stämmiger Kadetten, von denen jeder sie um
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