Schwesternmord
hing ein Klemmbrett mit einem Protokoll der Einlieferungen. Der Name des älteren Mannes, den Bristol gerade obduziert hatte, war der letzte auf der Liste, eingetroffen am Abend zuvor um dreiundzwanzig Uhr. Das war ein Plan, auf dem niemand gerne stehen wollte.
Bristol öffnete die Tür, und Wölkchen von Wasserdampf wehten ihnen entgegen. Sie traten ein. Rizzoli musste gegen den Brechreiz ankämpfen, als ihr der Geruch von gekühltem Fleisch in die Nase stieg. Seit sie schwanger war, konnte sie üble Gerüche längst nicht mehr so gut ertragen wie vorher; selbst der leiseste Hauch von Verwesung ließ sie sofort zum
nächsten Waschbecken stürzen. Aber diesmal gelang es ihr, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken, während sie mit grimmiger Entschlossenheit die im Kühlraum aufgereihten Rollbahren betrachtete. Sie zählte fünf in weiße Plastiksäcke gehüllte Leichen.
Bristol schritt die Reihe der Bahren ab und las dabei die angehängten Namensschilder. An der vierten blieb er stehen. »Da haben wir unser Mädchen«, sagte er. Er zog den Reißverschluss so weit auf, dass der Kopf und die obere Hälfte des Oberkörpers zu sehen waren, mit dem vernähten Y-Einschnitt – ein weiteres Beispiel von Yoshimas Kunstfertigkeit mit Nadel und Faden.
Als die Plastikhülle fiel, war Rizzolis Blick nicht auf die Tote, sondern auf Rick Ballard gerichtet. Schweigend starrte er auf die Leiche hinunter. Der Anblick der toten Anna Jessop ließ ihn zur Salzsäule erstarren.
»Und?«, sagte Bristol.
Ballard blinzelte, als habe die Frage ihn plötzlich aus seiner Trance gerissen. Er ließ die angehaltene Luft entweichen. »Das ist sie«, flüsterte er.
»Sind Sie sich absolut sicher?«
»Ja.« Ballard schluckte. »Was ist passiert? Was haben Sie herausgefunden?«
Mit dem stummen Blick, den Bristol Rizzoli zuwarf, holte er ihre Erlaubnis ein, die Informationen weiterzugeben. Sie nickte nur.
»Eine einzelne Schusswunde in der linken Schläfe«, sagte Bristol und deutete auf das Einschussloch in der Kopfhaut. »Ausgedehnte Zerstörungen des linken Schläfenlappens sowie beider Scheitellappen durch Querschläger im Schädelinneren. Massive intrakranielle Blutungen.«
»Das war die einzige Verletzung?«
»Genau. Sehr schnell, sehr effizient.«
Ballards Blick war zum Rumpf der Toten gewandert. Zu ihren Brüsten. Keine überraschende Reaktion für einen Mann, der sich einer nackten jungen Frau gegenübersah,
und dennoch empfand Rizzoli sie als störend. Ob lebendig oder tot, Anna Jessop hatte ein Recht auf Wahrung ihrer Würde. Rizzoli war erleichtert, als Dr. Bristol mit ruhiger Hand den Reißverschluss des Leichensacks zuzog und die Tote so vor weiteren neugierigen Blicken schützte.
Sie verließen den Kühlraum, und Bristol schloss die schwere Stahltür. »Wissen Sie schon von irgendwelchen nahen Verwandten?«, fragte er. »Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen müssen?«
»Es gibt niemanden«, antwortete Ballard.
»Sind Sie sicher?«
»Sie hat keine lebenden …« Er brach abrupt ab und verharrte reglos, die Augen starr auf das Fenster zum Autopsiesaal gerichtet.
Rizzoli folgte seinem Blick und begriff sofort, was seine Aufmerksamkeit so fesselte. Maura Isles hatte soeben den Saal betreten, in der Hand einen Umschlag mit Röntgenaufnahmen. Sie ging auf den Leuchtkasten zu, klemmte die Filme daran und schaltete das Licht ein. Während sie dastand und die Aufnahmen gebrochener Arm- und Beinknochen betrachtete, registrierte sie nicht, dass sie beobachtet wurde. Dass drei Augenpaare sie durch das Sichtfenster anstarrten.
»Wer ist das?«, murmelte Ballard.
»Das ist eine unserer Pathologinnen«, antwortete Bristol. »Dr. Maura Isles.«
»Die Ähnlichkeit ist fast unheimlich, nicht wahr?«, sagte Rizzoli.
Ballard schüttelte betroffen den Kopf. »Einen Moment lang dachte ich …«
»Das ging uns allen so, als wir das Opfer zum ersten Mal gesehen haben.«zu
Nebenan steckte Maura die Aufnahmen wieder in den Umschlag. Sie verließ den Autopsiesaal, ohne bemerkt zu haben, dass sie beobachtet worden war. Wie leicht es doch ist, einen anderen Menschen zu belauern und auszuspionieren,
dachte Rizzoli. Wir haben keinen sechsten Sinn, der uns verrät, wenn wir angestarrt werden. Wir spüren die Blicke des Stalkers nicht im Rücken; erst wenn er zuschlägt, registrieren wir seine Gegenwart.
Rizzoli wandte sich an Ballard. »Okay, jetzt haben Sie Anna Jessop gesehen. Sie haben bestätigt, dass Sie sie gekannt haben. Und
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