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Schwesternmord

Schwesternmord

Titel: Schwesternmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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mindestens einen Kopf überragte. Alle hatten erwartet, dass sie es sein würde, die sich zimperlich anstellen und irgendwann entsetzt das Gesicht abwenden würde. Doch sie hatte sich ganz vorne am Tisch aufgebaut und die gesamte Obduktion aus nächster Nähe mit angesehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und es war einer der Männer gewesen, der kräftigste von allen, der plötzlich kreidebleich geworden und zum nächsten Stuhl gewankt war. Sie fragte sich, ob es Ballard ebenso ergehen würde. Im grellen Neonschein hatte seine Haut eine ungesunde Blässe angenommen.
    Im Autopsiesaal begann Yoshima, den Schädel aufzusägen. Das Sirren des Sägeblatts, das sich in den Knochen fraß, schien Ballard den Rest zu geben. Er wandte sich vom Fenster ab und richtete den Blick starr auf die Kartons mit Handschuhen, die nach Größen sortiert im Regal standen. Fast tat er Rizzoli ein wenig Leid. Ein gestandener Kerl wie Ballard musste es als beschämend empfinden, wenn er vor den Augen einer Kollegin plötzlich weiche Knie bekam.
    Sie schob ihm einen Hocker hin und zog sich einen zweiten heran. Seufzend sank sie darauf nieder. »In letzter Zeit habe ich ziemliche Probleme, wenn ich länger stehen muss.«
    Er setzte sich ebenfalls, offensichtlich dankbar für alles, was ihn vom schrillen Geräusch der Knochensäge ablenkte. »Ist das Ihr Erstes?«, fragte er und zeigte auf ihren Bauch.
    »Ja.«
    »Junge oder Mädchen?«
    »Das weiß ich nicht. Aber wir sind mit beidem froh.«

    »So ging’s mir auch, als meine Tochter zur Welt kam. Zehn Finger und zehn Zehen sollte das Kind haben, alles andere war mir nicht so wichtig…« Er brach ab und schluckte krampfhaft, als im Hintergrund die Säge erneut aufheulte.
    »Wie alt ist Ihre Tochter heute?«, fragte Rizzoli, bemüht, ihn auf andere Gedanken zu bringen.
    »Ach, vierzehn – tut aber, als wäre sie dreißig. Macht einem nicht übermäßig viel Freude zurzeit.«
    »Schwieriges Alter für ein Mädchen.«
    »Sehen Sie die ganzen grauen Haare auf meinem Kopf?«
    Rizzoli lachte. »Das hat meine Mutter auch immer gemacht. Hat auf ihren Kopf gezeigt und gesagt: ›Diese grauen Haare habe ich alle nur dir zu verdanken.‹ Ich muss gestehen, ich war mit vierzehn auch nicht gerade pflegeleicht. Das ist eben dieses gewisse Alter.«
    »Na ja, es ist auch nicht so, als ob wir sonst keine Probleme hätten. Meine Frau und ich haben uns letztes Jahr getrennt. Und Katie sitzt zwischen allen Stühlen. Zwei berufstätige Elternteile, zwei Wohnungen.«
    »Das ist sicher nicht leicht für ein Kind.«
    Das Sirren der Knochensäge brach gnädigerweise ab. Durch das Fenster beobachtete Rizzoli, wie Yoshima die Hirnschale abhob. Sie sah, wie Bristol das Gehirn ablöste und es vorsichtig mit beiden Händen fasste, um es aus dem Schädel herauszuziehen. Ballard hielt das Gesicht weiter vom Fenster abgewandt und konzentrierte sich ganz auf Rizzoli.
    »Ist auch nicht gerade einfach, wie?«, sagte er.
    »Was denn?«
    »Der Polizeijob. In Ihrem Zustand, meine ich.«
    »Wenigstens erwartet jetzt niemand mehr von mir, dass ich Türen einrenne.«
    »Meine Frau war ganz frisch bei der Truppe, als sie schwanger wurde.«
    »Newton PD?«

    »Boston. Sie wollten sie sofort vom Streifendienst suspendieren. Aber sie hat ihnen erklärt, als Schwangere habe man doch auch Vorteile. Die Täter wären dann viel netter zu einem.«
    »Die Täter? Von denen ist noch keiner nett zu mir gewesen.«
    Nebenan nähte Yoshima die Leiche mit Nadel und Faden zu – ein makabrer Schneider, der nicht Stoff, sondern menschliches Fleisch flickte. Bristol streifte seine Handschuhe ab, wusch sich die Hände und tapste dann schwerfällig hinaus, um seine Besucher zu begrüßen.
    »Entschuldigen Sie die Verzögerung. Hat ein bisschen länger gedauert, als ich dachte. Der Mann hatte den ganzen Bauch voller Tumoren und war nie beim Arzt. Na ja, dafür ist er jetzt bei mir gelandet.« Er streckte Ballard seine fleischige, noch feuchte Hand zur Begrüßung entgegen. »Guten Tag, Detective. Sie sind also hier, um sich unsere Schusswunde anzuschauen.«
    Rizzoli sah, wie Ballard die Gesichtsmuskeln anspannte. »Detective Rizzoli hat mich darum gebeten.«
    Bristol nickte. »Also schön, dann wollen wir mal. Sie liegt im Kühlraum.« Er führte sie durch den Autopsiesaal und durch eine andere Tür in den geräumigen Kühlbereich. Er sah aus wie ein gewöhnlicher Kühlraum für Fleisch, mit Temperaturanzeigen und einer massiven Stahltür. Neben der Tür

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