Schwesternmord
merkte, wie sie tiefer atmete, den Geruch des Regens einsog, das satte, sinnliche Aroma der geschmolzenen Butter. Sie sah Dinge an ihm, die ihr bisher noch nicht aufgefallen waren. Die blonden Strähnen in seinem Haar. Die Narbe an seinem Kinn, nur ein schwacher weißer Strich unter seiner Unterlippe. Ich bin diesem Mann vor ein paar Tagen zum ersten Mal begegnet, aber er schaut mich an, als hätte er mich schon immer gekannt. Sie hörte das Handy in ihrer Tasche leise klingeln, doch sie wollte das Gespräch nicht annehmen. Sie ließ es klingeln, bis es verstummte. Es war sonst nicht ihre Art, nicht ans Telefon zu gehen, aber heute Abend schien alles anders zu sein. Sie schien anders zu sein als sonst. Unbekümmert,
leichtsinnig. Eine Frau, die ihr Telefon ignorierte und mit den Fingern aß.
Eine Frau, die vielleicht drauf und dran war, mit einem Mann zu schlafen, den sie kaum kannte.
Das Telefon begann erneut zu läuten.
Diesmal gelang es dem aufdringlichen Geräusch endlich, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie konnte es nicht länger ignorieren. Widerstrebend stand sie auf. »Ich denke, ich sollte besser drangehen.«
Bis sie das Schlafzimmer erreicht hatte, war das Handy schon wieder verstummt. Sie rief ihre Mailbox an und hörte zwei verschiedene Nachrichten, beide von Rizzoli.
»Doc, ich muss mit Ihnen reden. Rufen Sie mich zurück.«
Beim zweiten Anruf klang die Stimme schon leicht ungehalten. »Ich bin’s noch mal. Warum melden Sie sich nicht?«
Maura setzte sich aufs Bett. Ihr Blick fiel auf die Matratze, und sie konnte nicht umhin zu registrieren, dass sie gerade groß genug für zwei war. Sie schlug sich den Gedanken aus dem Kopf, atmete tief durch und wählte Rizzolis Nummer.
»Wo sind Sie?«, fragte Rizzoli schroff.
»Ich bin immer noch in Fox Harbor. Tut mir Leid, ich habe es nicht geschafft, rechtzeitig ans Telefon zu gehen.«
»Haben Sie Ballard dort oben schon getroffen?«
»Ja, wir sind gerade fertig mit dem Essen. Woher wussten Sie, dass er hier ist?«
»Weil er mich gestern angerufen hat, um zu fragen, wo Sie hingefahren seien. Er klang, als hätte er vor, Ihnen nachzufahren.«
»Er ist nebenan in der Küche. Soll ich ihn holen?«
»Nein, ich will mit Ihnen sprechen.« Rizzoli schwieg einen Moment. »Ich war heute bei Terence Van Gates.«
Rizzolis abrupter Themenwechsel überraschte Maura so, dass sie fast ein mentales Schleudertrauma davongetragen hätte. »Was?«, fragte sie verwirrt.
»Ich war bei Van Gates. Sie sagten mir doch, er sei der Anwalt, der …«
»Ja, ich weiß, wer er ist. Was hat er Ihnen gesagt?«
»Etwas sehr Interessantes. Über die Adoption.«
»Er hat tatsächlich mit Ihnen darüber geredet?«
»Tja, es ist schon erstaunlich, wie gesprächig manche Leute werden, wenn man ihnen eine Dienstmarke unter die Nase hält. Er erzählte mir, dass Ihre Schwester ihn vor ein paar Monaten aufgesucht habe. Genau wie Sie war sie auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Er hat natürlich zuerst um den heißen Brei herumgeredet, wie bei Ihnen auch. Die Unterlagen seien versiegelt, die Mutter bestehe auf Vertraulichkeit, bla, bla, bla. Also kam sie mit einem Freund wieder, dem es schließlich gelang, Van Gates davon zu überzeugen, dass es in seinem eigenen Interesse sei, den Namen der Mutter herauszurücken.«
»Und hat er ihn herausgerückt?«
»Ja.«
Maura hielt den Hörer so fest ans Ohr gepresst, dass sie das Hämmern ihres eigenen Pulsschlags hörte. Leise sagte sie: »Sie wissen, wer die Mutter ist.«
»Ja. Aber da ist noch etwas …«
»Sagen Sie mir ihren Namen, Jane.«
Eine Pause. »Lank. Ihr Name ist Amalthea Lank.«
Amalthea. Der Name meiner Mutter ist Amalthea.
Eine Woge der Dankbarkeit durchströmte Maura, und sie atmete erleichert auf. »Danke!«, stieß sie hervor. »O Gott, ich kann es kaum fassen, dass ich endlich …«
»Warten Sie. Ich bin noch nicht fertig.«
Rizzolis warnender Tonfall kündigte etwas Unangenehmes an. Etwas, das Maura bestimmt nicht gefallen würde.
»Was ist es?«
»Dieser Freund von Anna, der mit Van Gates geredet hat …«
»Ja?«
»Das war Rick Ballard.«
Maura verharrte vollkommen reglos. Aus der Küche drang das Klappern von Geschirr, das Rauschen von fließendem Wasser. Ich habe gerade einen ganzen Tag mit ihm verbracht, und plötzlich wird mir klar, dass ich überhaupt nicht weiß, was für ein Mensch er eigentlich ist.
»Doc?«
»Und warum hat er mir das nicht gesagt?«
»Ich weiß,
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