Schwesternmord
aus den Augen verloren hatte. Schließlich hatte sie ihn im Gartenpavillon entdeckt – beim Flirten mit Jen Hockmeister. Es hatte Warnzeichen gegeben, so viele Warnzeichen, und sie hatte sie alle ignoriert, weil sie an die wahre Liebe geglaubt hatte. Sie hatte daran geglaubt seit dem Tag, an dem sie Dwayne Purvis bei einer Geburtstagsparty vorgestellt worden war und sofort gewusst hatte, dass er der Richtige war, trotz all der Dinge, die sie von Anfang an hätten stutzig machen sollen. Wie zum Beispiel, dass er immer auf getrennten Rechnungen bestand, wenn sie zusammen ausgingen, oder dass er an keinem Spiegel vorbeigehen konnte, ohne eitel
an seiner Frisur herumzumachen. Kleinigkeiten, die letzten Endes nicht so wichtig waren, weil sie doch die Liebe hatten, die sie zusammenhielt. Das hatte sie sich jedenfalls eingeredet – nette kleine Lügen, die vielleicht ihren Platz in irgendeiner romantischen Liebesgeschichte hatten, vielleicht in einer, die sie im Kino gesehen hatte, aber nicht in ihrer. Nicht in ihrem Leben.
Ihr Leben war das hier. Gefangen in einer Kiste zu hocken und darauf zu warten, von einem Ehemann ausgelöst zu werden, der sie gar nicht wiederhaben wollte.
Sie dachte an den echten Dwayne – nicht den aus ihrer Scheinwelt -, wie er am Küchentisch saß und die Lösegeldforderung las. Wir haben Ihre Frau. Wenn Sie uns nicht eine Million Dollar zahlen …
Nein, das war viel zu viel Geld. Kein normaler Kidnapper würde so viel fordern. Was verlangten Entführer heutzutage für eine Ehefrau? Hunderttausend Dollar – das klang schon wesentlich vernünftiger. Aber trotzdem würde Dwayne sich sträuben. Er würde seine Besitztümer gegeneinander aufrechnen. Die BMWs, das Haus. Wie viel ist eine Ehefrau wert?
Wenn du mich liebst, wenn du mich je geliebt hast, wirst du bezahlen. Bitte, bitte, bezahle.
Sie glitt zu Boden, die Arme um den Leib geschlungen, und verkroch sich in ihre Verzweiflung. Ein Verlies in ihr drin, tiefer und dunkler als jedes Gefängnis, in das irgendjemand sie sperren konnte.
»Lady, Lady.«
Sie erstarrte mitten im Schluchzen – hatte sie das Flüstern wirklich gehört? Jetzt hörte sie schon Stimmen. Sie verlor allmählich den Verstand.
»Reden Sie mit mir, Lady.«
Sie schaltete die Taschenlampe ein und richtete sie nach oben. Da kam die Stimme her – aus dem Lüftungsgitter.
»Können Sie mich hören?« Es war eine Männerstimme. Leise, einschmeichelnd.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
»Haben Sie das Essen gefunden?«
»Wer sind Sie?«
»Gehen Sie sparsam damit um. Sie müssen noch länger damit auskommen.«
»Mein Mann wird Sie bezahlen. Ich weiß es. Bitte, lassen Sie mich doch hier raus!«
»Haben Sie irgendwelche Schmerzen?«
»Was?«
»Irgendwelche Schmerzen?«
»Ich will einfach nur raus hier! Lassen Sie mich raus !«
»Wenn es so weit ist.«
»Wie lange wollen Sie mich hier festhalten? Wann lassen Sie mich endlich raus?«
»Später.«
»Was soll das heißen?«
Keine Antwort.
»Hallo? Mister, hallo ? Sagen Sie meinem Mann, dass ich am Leben bin. Sagen Sie ihm, er muss Ihnen das Geld geben!«
Die Schritte entfernten sich knarrend.
»Gehen Sie nicht weg!«, schrie sie. »Lassen Sie mich raus!« Sie streckte die Hand aus und hämmerte an die Decke, schrie aus Leibeskräften: »Sie müssen mich rauslassen !«
Die Schritte verstummten. Sie starrte zu dem Gitterrost hoch. Er hat gesagt, dass er wiederkommt, dachte sie. Morgen wird er wiederkommen. Sobald Dwayne ihm das Geld gegeben hat, lässt er mich raus.
Da fiel es ihr plötzlich auf. Dwayne. Die Stimme im Lüftungsschacht hatte nicht ein einziges Mal ihren Mann erwähnt.
15
Jane Rizzoli war eine waschechte Bostonerin, und so fuhr sie auch – unter großzügigem Gebrauch der Hupe manövrierte sie ihren Subaru auf dem Weg zum Turnpike geschickt an den in zweiter Reihe parkenden Autos vorbei. Die Schwangerschaft hatte ihre Aggressivität keineswegs gedämpft; sie schien eher noch ungeduldiger als sonst, wenn sie wieder einmal an einer Kreuzung im Verkehr feststeckten.
»Ich weiß nicht recht, Doc«, sagte sie, als sie an einer roten Ampel warteten, und trommelte mit den Fingern nervös auf dem Lenkrad herum. »Damit machen Sie sich doch selbst bloß verrückt. Ich meine, was soll dieser Besuch denn bringen?«
»Immerhin werde ich wissen, wer meine Mutter ist.«
»Sie kennen ihren Namen. Sie wissen, welches Verbrechen sie begangen hat. Reicht das nicht?«
»Nein, das reicht nicht.«
Hinter ihnen
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