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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
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mich zu wiederholen, was er versucht hatte zu sagen.
    Als der Kurs vorbei war, wartete ich, bis er seine Bücher in den Rucksack gepackt hatte. Ich trug mein Buch unterm Arm. Er nahm den Deckel von der Linse, überprüfte die Einstellungen und machte sein erstes Foto von mir.
    Â«Ich bin übrigens nicht blöd. Du kannst mich alles fragen, nur eben nicht Französisch.»
    Ich lachte. «Okay.» Bis auf Gregory kannte ich keinen in meinem Alter, der nicht mit aller Kraft versuchte, etwas zu sein, das er nicht war.
    Â«Geschichte ist ein Fach, das mir liegt.»
    Ich verzog das Gesicht. Geschichte mochte ich am allerwenigsten.
    Â«Warte mal», sagte er. «Ich sag dir, was das Spannende daran ist. Man kann sich eben nicht einfach an die Fakten halten, die sie einem beibringen. Historiker manipulieren die Fakten.» Er verdrehte den Arm. «Hast du das gewusst?»
    Ich zuckte mit den Schultern. «Nein.»
    Â«Jup. Je nach ihrer politischen oder religiösen oder ökonomischen Einstellung, aber das ist der Teil, derSpaß macht, die verschiedenen Sichtweisen zu analysieren, auf denen die Überzeugungen von Historikern beruhen.»
    Â«So habe ich das noch nie gesehen. Aber trotzdem, Frauen kommen da nie vor.» In den Schulbüchern wurden fast nie Frauen herausgestellt, bis auf die vom Schlage Betsy Ross – Flaggennäherinnen und Kuchenbäckerinnen –, und die Männer wirkten steifer als tote Tiere. «Ich glaube nicht an Geschichte», sagte ich. «Was soll das denn bringen? Nur die Gegenwart zählt.»
    Beim Mittag setzten wir die Diskussion über die Bedeutung von Geschichte – oder ihre Bedeutungslosigkeit, wie ich es sah – fort. Wir hatten solchen Spaß dabei, dass wir uns für die Freistunde am Ende des Schultags verabredeten. Vielleicht wird die Zeit in Stonehill ja ganz okay, dachte ich.
    Ich besuchte einen Literaturkurs, in dem wir
Die kahle Sängerin
von Eugène Ionesco lasen. Ein paar von uns, unter ihnen auch Gregory, saßen an einem Konferenztisch in der Bibliothek. Die Hauptfiguren in diesem Stück sprachen völlig wirres Zeug. Keine der Figuren wirkte schlüssig, aber das gefiel mir gerade an dem Stück. Die Sprachhülsen und das seltsame Verhalten der Erwachsenen waren für mich völlig logisch, bildete es doch die undurchschaubare Welt meiner Eltern ab, deren Zeugin ich so oft gewesen war, dieses Leben in zwei getrennten Sphären, nur verbunden durch gemeinsame Drinks und qualmende Zigaretten. Aber manche der Schüler machte das Stück regelrecht wütend. Sie fanden es bescheuert, reine Zeitverschwendung. Ich sah das anders.
    Als endlich Freistunde war, spielten einige Schüler Tennis. Andere saßen lesend unter den Eichen oderhockten in Grüppchen auf dem Rasen oder rauchten heimlich. Wieder andere gingen auf ihr Zimmer oder machten einen Spaziergang. Da Gregory zu den Internatsschülern gehörte, wollte er den Campus erkunden. Wir überquerten das Fußballfeld und liefen durch eine dichte Baumreihe auf das Sumpfgebiet zu. Es war heiß und trocken. Eine leichte Brise hielt die Insekten fern. Wir saßen unter ausgewachsenen Kiefern, und Gregory machte noch mehr Fotos von mir. Er erzählte mir, dass eine Reihe seiner Bilder, Porträts von älteren Menschen aus seiner Stadt, bei ihm zu Hause in der Stadtbibliothek hingen.
    Â«Mein Vater war nicht besonders beeindruckt.»
    Â«Was hat er denn?»
    Â«Vielleicht denkt er, dass ich schwul bin.» Er nahm die Kamera hoch. «Du bist echt wunderschön.»
    Ich blickte in die Linse und fing an, den Refrain von «Aquarius» zu singen. Das Lied flog aus meinem Mund wie ein überraschter Vogel. Durch eine Lücke zwischen den Baumkronen blickte ich hoch zum Himmel. Der weite Raum blickte zustimmend zurück.
«When the moon is in the seventh house.»
Ich sang weiter, brach dann ab und sagte: «Hast du dich je gefragt, was das heißt?» Auf einmal fühlte ich mich glücklich, zum ersten Mal befreit.
    Ich riss meine Arme in die Luft und sang:
«This ist the dawning of the Age of Aquarius».
    Â«Deine Stimme ist der absolute Hammer», sagte er und beugte sich zu mir. Als würde er eine Fotografie berühren, strich er mit den Fingern über meine Lippen, küsste mich sanft, indem er seine Lippen auf meine Nasenspitze drückte, auf meine Wangen, und dann endlichauf meinen Mund, er öffnete seinen

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