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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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die Luft entwich.
    »Die Poesie auf dem Schachbrett gelangt nur durch Weiß
und
Schwarz zur Vollkommenheit, also erst, wenn sich die Figuren beider Kontrahenten bewegen.«
    »Hm.«
    »Je stärker dein Gegner ist, umso eher entsteht ein neues, wundervolles Gedicht.«
    Schon bald stieg ihnen der süße Kuchenduft in die Nase, der sich flugs im ganzen Bus verteilte.
    Der Ofen lief auf vollen Touren. Der Junge sog den Duft mit einem tiefen Atemzug ein.
    »Ich tauche doch nur ab, um mit den Figuren des Gegners zusammenzuspielen …«
    »Eben darum. Weshalb sollte das verboten sein? Das verstehe ich nicht.«
    Der Meister zerriss den Brief und warf ihn in den Papierkorb. Sein Hemd und seine Haare waren mit weißem Mehl bestäubt.
    »Beim Schachspielen überkommen mich eine Menge merkwürdiger Gefühle«, sagte der Junge. »Wenn ich der Meinung bin, dass ich gut spiele und die Partie tatsächlich gewinne, heißt das nicht unbedingt, dass der andere Fehler macht. Die Kraft der gegnerischen Figuren hallt wie ein Echo in meinen wider, bis sie in Einklang stehen. Das ergibt eine ganz neue Melodie, die man nie zuvor gehört hat. Wenn ich ihr lausche, dann weiß ich, dass auf dem Brett über mir alles in Ordnung ist. Besser kann ich es leider nicht erklären.«
    »Oh, das verstehe ich. Ich verstehe es sogar sehr gut.«
    Der Meister reckte den Daumen in die Höhe.
    »Die kraftvollsten Züge sind nicht zwangsläufig die besten. Auf dem Schachbrett ist das Gute wertvoller als bloße Kraft. Du bist auf dem richtigen Weg.«
    Der Junge reckte ebenfalls seinen kleinen Daumen hoch. Mit einem Mal war alles Unglück – die Niederlage, die Disqualifikation, die missglückte Aufnahme in den Klub – vergessen.
    »So, unser Kuchen ist fertig. Wollen wir ein Stück probieren?«
    »Ja, gern!« rief der Junge vergnügt. Auch Pawn hatte inzwischen den Duft wahrgenommen und strich um die Beine des Meisters herum.

6
    Eines Tages, als der Junge sich auf dem Heimweg von einem Kunden seines Großvaters befand, dem er Zierschrauben vorbeigebracht hatte, entdeckte er im Park an der Brücke ein halbes Dutzend Männer. Selbst von Weitem erkannte er, dass sie um ein Schachbrett herumstanden. Neugierig eilte er über die Uferpromenade in den Park.
    Ihre Art zu spielen war ganz anders als die des Meisters und des Jungen im Klub. Das Brett war schmutzig, und die Figuren waren in einem desolaten Zustand, was vor allem der fehlenden Sorgfalt der Spieler zuzuschreiben war, denn sie ließen Zigarettenasche darauf fallen und verschütteten ständig Bier. Die Männer lümmelten sich auf Stühlen, die sie dem Aussehen nach aus der nahe gelegenen Schule entwendet hatten. Sie sprachen laut und lachten höhnisch, obwohl die Partie in vollem Gang war.
    Auch das Spiel selbst war höchst seltsam. Man hätte meinen können, sie seien eher damit beschäftigt, Zigaretten zu rauchen, anstatt sich eine sinnvolle Strategie zurechtzulegen, denn sie spielten rasend schnell. Offenbar dachten sie überhaupt nicht nach. Sie griffen nach ihren Figuren, schleuderten die des Gegners vom Feld und scherten sich nicht darum, ob diese auch ordentlich auf ihrem Platz standen. Sie attackierten in einem fort, eine wohlüberlegte Verteidigungsstrategie schien ihnen fremd zu sein. Das permanente Aneinanderstoßen der Figuren hörte sich für den Jungen an, als würde ein Bulldozer an ihnen vorbeirattern.
    »Die Dame nicht so weit vorziehen!« entfuhr es dem Jungen, der sich unter die Zuschauer gemischt und das Treiben einige Zeit beobachtet hatte. Die Männer drehten sich zu ihm um.
    »Wie kommst du darauf?« nuschelte, die Zigarette im Mund, der Mann, der gerade mit seiner Dame gezogen hatte.
    »Wenn man sie nur ein Feld auf e7 vorzieht, kann man den Turm ins Spiel bringen«, erwiderte der Junge zaghaft, aus Angst, den Mann zu verärgern.
    »Oho!« rief der Mann. »Du hast also Ahnung von Schach, was?«
    Der Junge nickte.
    »Wir würden ja sehr gerne mit dir eine Partie spielen, aber leider sind wir nicht zum Vergnügen hier.«
    »Ist das ein Schachturnier?«
    Die Männer prusteten los.
    »Nein, nicht so etwas Kompliziertes. Der Gewinner bekommt Geld, das ist alles. Deshalb kann ein Früchtchen wie du, das kein Geld hat, auch nicht mitmachen.«
    »Aber ich habe Geld bei mir.«
    Der Junge konnte es sich selbst nicht erklären, weshalb er sich zu dieser unbedachten Bemerkung hatte hinreißen lassen. Reizte es ihn, diese Art von Schach, die ihm bislang unbekannt war, kennenzulernen? Oder war er

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