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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Junge bekam keine Gelegenheit, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, sondern wurde von seinem Gegner regelrecht vorgeführt. Der zog sein Spiel unverändert durch. Souverän manövrierte er seine Figuren auf dem Schachbrett herum, anmutig betätigte er die Stoppuhr, zielsicher verfolgte er seine Strategie. Unter den Zuschauern machte sich Enttäuschung breit. Egal, was der Junge auch versuchte, nichts wollte ihm gelingen.
    Doch dann geschah es.
    »Nicht so hastig, mein Junge«, dröhnte die vertraute Stimme des Meisters durch den Raum. Man hörte missbilligendes Zischen im Publikum, aber der Junge schaute trotzdem auf. Der Meister war der Einzige im Raum, der sich nicht auf das Schachbrett konzentrierte, sondern nur den Jungen ansah. Sein Ausdruck war wie immer, gelassen und voller Würde. Stimmt, ich darf nichts überstürzen, sagte sich der Junge. Es besteht kein Grund zur Eile. Schach ist ein Meer, das weiter und tiefgründiger ist, als man glaubt.
    Der Meister und der Junge nickten einander zu. Dann zog der Meister sachte die Decke vom Korb. Der Kater sprang mit einem Satz heraus, schlüpfte durch die Beine der Zuschauer und verschwand unter dem herabhängenden Tischtuch. Zugleich sprang auch der Junge von seinem Stuhl auf und kroch zu Pawn unter den Tisch.
    Alle schauten sich entgeistert an. Der Schiedsrichter hatte aufgehört zu kritzeln und starrte mit offenem Mund auf den Tisch. Unruhe machte sich breit. Der ältere Herr setzte die Brille ab und erhob sich von seinem Platz. Der Gegner des Jungen verzog ungläubig das Gesicht und tippte nervös mit den Fingernägeln auf den Rand des Schachbretts.
    »Er hat wohl aufgegeben.«
    »Nein, noch schlimmer, er ist einfach geflüchtet.«
    »Sehr sonderbar, so etwas hat es hier in unserem Klub noch nie gegeben.«
    Überall erhoben sich empörte Stimmen, in die sich höhnisches Gelächter mischte. Inmitten des Tumults schoss plötzlich der Junge unter dem Tisch hervor, setzte seinen Springer, drückte auf die Uhr und verschwand wieder. Sofort hatte sich der Sekundenzeiger auf der Uhr wieder in Bewegung gesetzt. Durch das Ticken wurde allen Anwesenden klar, dass der Junge weder aufgegeben hatte noch geflüchtet war, sondern dass das Spiel weiterging. Sein Gegner riss das Tischtuch hoch und starrte den Jungen an, aber da die Uhr lief, war er gezwungen, sich auf seinen nächsten Zug zu konzentrieren.
    Die Holzmaserung des Tischs und das Parkett am Boden hatten keinerlei Ähnlichkeit mit der vertrauten Umgebung im Bus. Aber da nun Pawn an seiner Seite war, hatte der Junge keinen Grund mehr zur Sorge. Er kauerte sich hin, um zur Ruhe zu kommen und die bisherige Partie zu überdenken. Jetzt, da er sich dem Blick der Zuschauer entzogen hatte, wurde ihm bewusst, wie kleinmütig seine Spielweise bislang gewesen war. Zugleich nahm er auch einen Schatten über der Stellung seines Gegners wahr, der bisher so brillant gespielt hatte.
    Sein Gegner machte den nächsten Zug. Die Geräusche der Figuren waren hier weniger gut zu hören als unter dem Schachtisch im Bus. Aber auf dem Spielfeld, das nun unterhalb des Tischs auftauchte, war deutlich die weiße Dame zu sehen, die mutig vorgerückt war. Der Junge grub seine Finger in das Fell des Katers, damit er seinen Pulsschlag spüren konnte. »Indira, hilf!« flüsterte er, nahm seinen Läufer und versperrte der vorstoßenden Dame den Weg.
    Ein Raunen ging durch den Saal. Der Meister, der immer noch den Korb auf seinem Schoß hielt, seufzte erleichtert. Noch vermochte niemand zu beurteilen, ob dieser Zug die Lage des Jungen verbessern würde oder ob es bloß seine letzten verzweifelten Rettungsversuche waren. Aber der Meister wusste, das Blatt hatte sich gewendet. Stand der Junge bislang so unter Druck, dass es keinen Ausweg zu geben schien, konnte er nun auf einen Befreiungsschlag hoffen.
    Wie gebannt starrten die Zuschauer auf den Tisch. Hinter dem Tuch zeichnete sich die schmächtige Gestalt des Jungen ab, sein Spiel aber war nun kraftvoll und mutig. Sein Gegner war sichtlich bemüht, keinen Gedanken daran zu verschwenden, was genau zu seinen Füßen vor sich ging.
    Unter dem Tisch herrschte Stille. Man hörte lediglich die Bewegungen der Figuren und das Ticken der Schachuhr. Pawn gab keinen Laut von sich, während er sich an die Brust des Jungen schmiegte. Die beiden verschmolzen zu einer Einheit, die auf dem Grund des Meeres dahintrieb.
    »Er spielt wie Aljechin«, sagte einer der Zuschauer.
    »Aber nicht wie ein Poet auf dem

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